Kunsthaus Zürich: Riesenkräuter und Monsterbäume

Im Mittelpunkt stehen die radierten Landschaften mit den überlebensgrossen Kräutern und gespenstisch in den Raum ausgreifenden Baumriesen. Durch ihre Evokationskraft weisen sie auf den Symbolismus und den Surrealismus hin. Die rund 60 Arbeiten stammen aus den Beständen der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau und werden durch Leihgaben aus deutschem und schweizerischem Privatbesitz ergänzt.
Der im Selbststudium zum Landschaftszeichner und Radierer aufgestiegene Künstler Carl Wilhelm Kolbe ist eine der schillerndsten Persönlichkeiten in der europäischen Kunst um 1800. Durch seine fantastischen, nahezu surrealen Baum- und Sumpflandschaften, wo das Kraut hoch über die Köpfe von Mensch und Tier wuchert, setzte er sich schon früh vom herrschenden Geschmack ab. Seine Schöpfungen sind ein lange Zeit unterschätzter Beitrag zur Grafik des Sturm und Drang, des Klassizismus und der Romantik. Der in Berlin geborene Künstler und Sprachforscher, der ein akademisches Figurenstudium absolviert hatte, verbrachte die längste Zeit seines Lebens in Dessau.



Salomon Gessner und die Geschichte der Limmatstadt



Von 1805 bis 1808 weilte Kolbe in Zürich um Radierungen von den Aquarellgouachen des damals berühmten, 1788 gestorbenen Maler-Poeten Salomon Gessner anzufertigen. Kolbe wohnte bei dessen Angehörigen, wo er laut Autobiographie drei seiner schönsten Jahre verbrachte. Doch Kolbes Aufenthalt in der Limmatstadt war auch von einem historischen Umbruch gezeichnet: dem Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Aus der Kreidezeichnung mit dem fantastischen, toten Weidenstamm, die Kolbe damals schuf und die er der Zürcher Künstlergesellschaft bei seinem Abschied schenkte, spricht tiefe Verunsicherung über die Zukunft seiner Generation. In ihr drücken sich Bewunderung und Kritik an der Idyllik seiner Vorgänger aus.



Et in Arcadia ego. Auch ich war in Arkadien, um 1801.



Aus dem Innern Bilder entstehen lassen



Kolbes Baumlandschaften sind freie Schöpfungen der Fantasie. Im Unterschied zu den streng komponierten Ideallandschaften eines Johann Christian Reinhart oder Joseph Anton Koch liess sich Kolbe stets von der genauen Beobachtung der Natur inspirieren. Vergleichbar mit den grenzenlosen Raumvisionen eines Caspar David  riedrich gelingt es ihm, wenn auch mit anderen Mitteln, die gefährdete Balance zwischen Mensch und Natur in beklemmender Nahsicht zum Ausdruck zu bringen. Gemeinsam ist diesen Pionieren der modernen Landschaftsdarstellung die radikale Selbsterfahrung im Umgang mit Natur, die alle damals geltenden Konventionen aus den Angeln hob.



Eiche mit Hirtenstaffage und Ochse.



Waldgänger aus Leidenschaft



Kolbe war ein leidenschaftlicher Waldgänger. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die Morgenstunden der Arbeit zu widmen und sich am Nachmittag in der freien Natur zu bewegen. Hier kamen ihm die Ideen für seine Kompositionen. Grundsätzlich lassen sich bei ihm zwei Typen der Landschaftsdarstellung unterscheiden: die heroisch-idyllische, die sich vom Ideal einer antikisch-arkadischen Fantasiewelt nährt, und die einsame, wilde Waldgegend, in deren Zentrum ein einzelner Baum oder eine Baumgruppe die Landschaft beseelt. Um in seinen Radierungen den lebendigen Geist der Landschaft einzufangen, denn dies war sein erklärtes Ziel bei jeder Naturwiedergabe, arbeitete Kolbe nach Skizzen, die er stets aus dem Gedächtnis anfertigte.



Die Kuh im Schilfe, um 1801.



Die grosse Zeit der Druckgrafik



Kolbes Baumlandschaften stehen in der Druckgrafik am Ende einer Entwicklung, welche im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte, bevor das Interesse an dieser Gattung auffallend zurückging. Als Aussenseiter und Einzelgänger leistete Kolbe auf dem Gebiet der Druckgrafik Überragendes. Erst der Engländer Samuel Palmer (1805-1881) und der Franzose Rodolphe Bresdin (1822-1885) haben mit ihren visionären Landschaften ein vergleichbares Niveau erreicht; wie Kolbe waren auch sie Autodidakten und Meisterstecher in Einem.

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