Kunsthaus Zürich: The Expanded Eye. Sehen – entgrenzt und verflüssigt

Bekannte Arbeiten der Op Art-Künstlerin Bridget Riley, des Surrealisten Salvador Dalí und des Videokünstlers Nam June Paik. Schweizer Künstler wie Markus Raetz, Jules Spinatsch, Pipilotti Rist und David Renggli. Neuere Arbeiten u.a. von Pierre Huyghe und Sam Taylor-Wood.


Josef Albers, Engraving U7, 1955
Josef Albers, Engraving U7, 1955

Die Ausstellung «The Expanded Eye» lenkt den Blick auf die abenteuerliche und forschende Seite der Kunst. Vier Jahrzehnte nach «The Responsive Eye», einer Ausstellung, die 1965 im Museum of Modern Art in New York stattgefunden hat und die Op Art vorstellte, bietet sich die Kunst wieder als ein faszinierendes Feld der spielerischen Experimente an. Der von Kuratorin Bice Curiger gewählte Titel erinnert auch an «The Expanded Cinema», eine Buchpublikation von 1970, die sich dem Aufbruch im Experimentalfilm, der strukturellen Analyse, dem Ausbrechen aus filmischen Klischees des Sehens und Erlebens widmet. Zwei wichtige Schwerpunkte der Ausstellung sind die Rekonstruktion von Räumen aus den 1960er-Jahren etwa von Bridget Riley, Gianni Colombo, François Morellet, Julio Le Parc sowie ein substantielles Filmprogramm, präsentiert in der Ausstellung und in speziellen Abendveranstaltungen.








Die 60er Jahre als Scharnier: Kinetische Objekte, Film, und Rauminstallationen
Die in gesellschaftlicher wie künstlerischer Hinsicht bewegten 60er Jahre bilden das Scharnier der Ausstellung. Aus der heutigen Perspektive und der Erfahrung der jungen Kunst wird zurückgeschaut auf die Kunst der Nachkriegszeit, die bekannte und die vergessene. Von heute aus lassen sich Berührungen und Verbindungen zwischen unterschiedlichen künstlerischen Positionen und Bewegungen erkennen, die bisher nicht wahrgenommen werden konnten oder sollten, zwischen Op Art, Kinetik, Experimentalfilm, Psychedelik, Konzeptkunst und Videoinstallation, aber auch zwischen Neokonstruktivismus und Surrealismus: im Hinzielen auf ein selbstreflexives, «exzentrisches Sehen».


Nam June Paik, TV-Buddha, 1974


Der Aufbruch von 1968 liess viele Werke und geistige Strömungen plötzlich als zu optimistisch und «technikgläubig» erscheinen: ein Verdikt, das heute relativiert sein will. Werken von Künstlern wie Hans Haacke – von ihm ist ein frühes kinetisches Objekt zu sehen – oder Robert Smithson ist der kulturelle Paradigmenwechsel zuweilen eklatant eingeschrieben.Ein Blick auf jene bedeutende Vertreter der Kunst des 20. Jahrhunderts wie Marcel Duchamp, Salvador Dalí, Josef Albers und Henri Michaux zeigt wie einflussreich ihre Impulse bis heute geblieben sind. Dass auch Filmpioniere wie Maya Deren oder Peter Kubelka für die Installations- und Videokunst der Gegenwart und nicht nur für das «Expanded Cinema» eine wichtige Rolle spielten, machen die gattungsübergreifenden Gegenüberstellungen der Ausstellung deutlich. Raumerlebnisse zwischen Skulptur und Architektur bieten etwa die Werke von Rupprecht Geiger oder Olafur Eliasson, die wie viele andere in der Ausstellung nicht nur die Netzhaut sondern den ganzen Körper ansprechen.



Yayoi Kusama, The Passing of Winter, 2005, Edelstahl und Spiegel, 200 x 107 x 101,9 cm.

Das Auge und der herausgeforderte Realitätsinn
Das Auge ist das dominierende Organ unserer Zeit, die Kultur eine Huldigung an die Sichtbarkeit: Ein permanent gesteigertes Zugänglichmachen, eine visuelle Expansion in die verschiedensten Universen hinein – geographisch, physikalisch, astral, kulturell, sozial, physiologisch. Das Auge ist das Mass, mit dem wir die Welt auf den ersten – und oft letzten Blick – beurteilen. Satellitenbilder, Websites, Livecams, Mikro- und Teleskope: die Vehikel der Mobilität und Apparate des Sehens sind uns zur zweiten Natur geworden. Die Möglichkeiten virtueller und realer Verlängerungen unseres Körpers und unserer Wahrnehmungsorgane bewirken eine grundsätzliche und weit reichende Veränderung unseres Realitätsverständnisses.


«Eye equals I»: Das Auge symbolisiert in aller Konsequenz das Auflösen der Grenzen unserer heutigen Kultur, das Vermischen der Begriffe aktiv/passiv, Subjekt/Objekt, öffentlich/privat, individuell/kollektiv, Natur/Künstlichkeit. Dem Entgrenzen entspricht ein Rollenverständnis des Künstlers, das mit Empathie für den Adressaten – für das Publikum – operiert. Die Kunst wird selber von aussen betrachtet. Ihr Spiel ist der Austausch: Das «expanded eye» wird zum «collective I».


Kunst im öffentlichen Raum
Vor dem Kunsthaus sind zwei grosse Werke aufgestellt, das eine, vom Briten Cerith Wyn Evans, ist ein Flabscheinwerfer aus dem II. Weltkrieg, der abends in Lichtmorsezeichen umgesetzt einen Text von Friedrich Dürrenmatt in den Himmel sendet, in welchem die Geschichte des Universums jener der Menschheit gegenübergestellt wird. Das zweite Werk ist von Monica Bonvicini, eine Toilette, deren Wände verspiegelt sind. Die Spiegel gewähren keinen Einblick nach Innen, auf psychisch entblössende Weise sehr wohl aber nach Aussen.


Filmprogramm
Im Begleitprogramm zur Ausstellung zeigt das Kunsthaus 16mm-Filme von Stan Brakhage, Steina and Woody Vasulka, Peter Tscherkassky u.a. An einem Experimentalfilmwochenende am 26. und 27. August wird Andy Warhol, «The Chelsea Girls», in der ursprünlichen Zwei-Screen Version gezeigt und Bruce Conner, «Crossroads», Tony Conrad, «The Flicker» und Anthony McCall, «Line Describing a Cone», vorgeführt (Programm unter www.kunsthaus.ch und im Kunsthaus aufgelegt erhältlich).


Künstler-Liste
Albers, Josef; Alviani, Getulio; Arnold, Martin; Bartlett, Scott; Bayrle, Thomas; Beauvais, Yann; Beck, Stephen; Belson, Jordan; Beydler, Gary; Boltanski, Christian; Bonvicini, Monica; Brakhage, Stan; Breer, Robert; Brown, Alex; Butler, Brad; Christen, Andreas; Close, Chuck; Colombo, Gianni; Conner, Bruce; Conrad, Tony; Dalí, Salvador; Deren, Maya; Ditto (vormals DeWitt), Tom; Duchamp, Marcel; Eliasson, Olafur; Emshwiller, Ed; Evans, Cerith Wyn; Farocki, Harun; Fischinger, Oskar; Fisher, Morgan; Frampton, Hollis; Friedrich, Su; Geiger, Rupprecht; Gerstner, Karl; Gioli, Paolo; Gordon, Douglas; Graham, Dan; Gysin, Brion; Haacke, Hans; Hein, Birgit und Wilhelm; Hill, Gary; Hirsh, Hy; Höller, Carsten; Huyghe, Pierre; Jacobs, Ken; Kapoor, Anish; Kessler, Jon; Klein, Yves; Kohl, Daniel; Krautkrämer, Florian; Kren, Kurt; Kubelka, Peter; Kusama, Yayoi; Lawder, Standish D.; Le Parc, Julio; LeGrice, Malcolm; Lye, Len; Matter, Max; McCall, Anthony; Megert, Christian; Meier, Dieter; Mekas, Jonas; Michaux, Henri; Mirza, Karen; Morellet, François; Nameth, Ronald; Nauman, Bruce; Neidich, Warren; O’Neill, Pat; Ono, Yoko; Ostrovsky, Vivian; Paik, Nam June; Parreno, Philippe; Penny, Evan; Pfeiffer, Paul; Raetz, Markus; Renggli, David; Rey, Georges; Rhodes, Lis; Riley, Bridget; Rimmer, David; Rist, Pipilotti; Rose, Peter; Rovère, Pierre; Scheugl, Hans; Schilling, Alfons; Schmelzdahin (Mitglieder: Jochen Lempert, Jürgen Reble, Jochen Müller); Schum, Gerry; Schwerzmann, Pierre; Sharits, Paul; Sherwin, Guy; Siber, Hans-Jakob; Smithson, Robert; Snow, Michael; Soto, Jesús Raffaël; Spinatsch, Jules; Stehura, John; Takashi, Ito; Taylor-Wood, Sam; Tinguely, Jean; Tscherkassky, Peter; Turrell, James; VanDerBeek, Stan; Vasarely, Victor; Vasulka Steina und Woody; Warhol, Andy; Weiss, David; Whitney, James; Whitney, John; Yalkut, Jud; Yvaral, Jean-Pierre; Zaugg, Rémy.


Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit Texten von Bice Curiger, Ina Blom, Diedrich Diederichsen, Kurt W. Forster, aA.L. Rees und Rüdiger Wehner. Die auf deutsch und englisch erscheinende Publikation enthält eine Anthologie zur Reflexion über die Kunst und die Wahrnehmungsforschung mit Künstlerstatements von Lucio Fontana und Josef Albers, mit theoretischen Essays von Rudolf Arnheim, Georg Kubler, Teilhard de Chardin u.a.m. 250 Seiten, davon 110 farbig, Verlag Hatje Cantz. Er ist am Kunsthaus-Shop für CHF 54.- erhältlich. (kh/mc/th)

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