Kunstmuseum Chur: Gefrorene Momente

Auch in der direkten Gegenüberstellung mit Werken einer jüngeren Generation wirken sie aktuell und unmittelbar. So spielt das Alltägliche eine zentrale Rolle in diesem Dialog zwischen dem älteren und den jüngeren Künstlern Judith Albert, David Claerbout, Caro Niederer, Beat Streuli und Jeff Wall ? jedoch nicht allein durch die Verwendung alltäglicher Dinge und Motive, sondern durch die  Reflexion über die Zeit, die sich aus der Beschäftigung mit dem Alltag ergibt.


Essensreste


Spoerri fixiert mit Leim oder Kunstharz zufällig vorgefundene Situationen auf der Tischunterlage ? Essensreste, Geschirr und andere Gegenstände ? und hängt diese wie ein Stillleben vertikal an die Wand. Die so genannten Fallenbilder oder Tableau-piège fangen einen bestimmten Augenblick ein und halten ihn fest. Einen Moment aus der Beiläufigkeit des täglichen Flusses herauszulösen, kann entweder Erstarrung oder Ausdehnung dieses Moments bedeuten, sowohl eine Fixierung als auch eine Endlosbewegung  eschreiben und ebenso für Ewigkeit wie für Vergänglichkeit stehen.


 
Judith Albert, Zwischen der Zeit, 2004, Video Loop 20??, Farbe, ohne Ton


Zwischen den Zeiten


David Claerbout etwa dehnt in seiner komplexen Videoinstallation (Sections of a Happy Moment, 2007) einen einzigen fotografischen Moment auf 26 Minuten aus, in denen dieselbe spielende Familie aus einer immer anderen Perspektive sichtbar wird. Beat Streuli hingegen fotografiert vom gleichen Standpunkt immer wieder neue, zufällig vorbeikommende Passanten. Wie Claerbout zeigt er diese Fotos aus der Reihe Porte de Ninove (2007) in einem projizierten, filmischen Ablauf. Diese scheinbar zufällige Aneinanderreihung von anonymen Menschen erzeugt ein ähnliches Gefühl von Endlosigkeit wie das Video von Judith Albert. In Zwischen der Zeit (2004) giesst eine nur teilweise sichtbare Frauenfigur aus einem Krug Milch in eine Schüssel. Die alltägliche Handlung, die Spoerri durch das Fixieren der Gegenstände bewusst unterbricht, geht bei Albert immer weiter. Die Milch läuft in einem raffinierten Endlosloop aus dem Krug. Wie bei Albert und Spoerri steht der Tisch auch in der grossformatigen Fotografie An Octopus (1990) von Jeff Walls im Zentrum des Geschehens.



Jeff Wall, An Octopus, 1990, Grossbilddia in Leuchtkasten, 182 x 229 cm


Umdeutung des Alltäglichen
In einem kellerähnlichen Raum liegt ein Krake auf einem alten Holztisch. Was wie eine zufällige, dokumentarische Aufnahme aussieht, ist in Wirklichkeit eine sorgfältig ausgeleuchtete Inszenierung von Requisiten. Auch Caro Niederer setzt sich mit der Umdeutung von Alltäglichem in Wertvolles auseinander. Sie lässt unspektakuläre, selbst getätigte Schnappschüsse in China zu riesigen Seidenteppichen knüpfen. Aufgrund der zeitlichen und inhaltlichen Distanzierung vom privaten Kontext (die Umsetzung durch fremde Arbeiterinnen dauert neun Monate) erhalten Niederers persönliche Dinge eine Allgemeingültigkeit und werden zu Parabeln des Alltags und des Lebens an sich. So ist es auch bei Spoerri weniger die augenfällige Vergänglichkeit der Essensreste und Abfälle, die aus seinen Fallenbildern ein Memento Mori machen, sondern das demonstrative Herauslösen aus dem ewigen Kreislauf des Lebens. Was Spoerris Schaffen mit den hier gezeigten Arbeiten einer jüngeren Generation unmittelbar verbindet, ist die Auseinandersetzung mit Zufall und Absicht, mit Bewegung und Stillstand, mit Alltag und Ewigkeit. Die Ausstellung Gefrorene Momente und die Grundthematik der Dauer, die sich in jedem der Exponate auf andere Weise manifestiert, beruht auf der uralten und stets aktuellen Frage nach der menschlichen Wahrnehmung von der Zeit und ihrem Vergehen. (km/mc/th)

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