EY: Stromwirtschaft sieht Liberalisierung skeptisch und unterschätzt Digitalisierung

EY: Stromwirtschaft sieht Liberalisierung skeptisch und unterschätzt Digitalisierung

Alessandro Miolo, verantwortlicher Partner Power & Utilities bei EY Schweiz. (Foto: EY)

Zürich – Die Schweizer Elektrizitätswerke und Energieversorgungsunternehmen sehen mit gemischten Gefühlen der Zukunft entgegen: Auf die geplante vollständige Marktöffnung möchte über die Hälfte der von EY befragten Unternehmen komplett verzichten. Dem Thema Innovation weisen sie eine sinkende Bedeutung zu und viele Unternehmen vernachlässigen das Thema Digitalisierung. Das regulatorische Umfeld sehen sie als zentralen Treiber des Wandels, mit der Energiestrategie des Bundes sind sie aber weitgehend einverstanden. Mit ihrem Geschäftsgang sind die Unternehmen zufrieden, weit mehr als die Hälfte rechnet auch 2016 mit einem erfolgreichen Jahr.

Die komplette Liberalisierung des Marktes, auch für Privatkunden, findet immer weniger Anhänger innerhalb der Branche: 57 Prozent der vom Beratungsunter­nehmen EY befragten Energieversorger möchten gar komplett darauf verzichten und 55 Prozent gehen davon aus, dass die vollständige Öffnung nicht vor 2022 kommt. Im Vorjahr bezeichnete noch ein Drittel der Befragten 2018 als sinnvollen Zeitpunkt für die Liberalisierung. «Die vollständige Marktöffnung für Privatkunden wird zu einer Steigerung der Wettbewerbsintensität führen. Die Versorger müssen ihre Kundenansprache und Kundenbetreuung auf diese neue Marktrealität ausrichten. Unvorbereitete Unternehmen werden im liberalisierten Stromverkauf keine Chance haben», sagt Alessandro Miolo, verantwortlicher Partner Power & Utilities bei EY Schweiz.

Die vom Bundesrat verabschiedete Energiestrategie 2050 wird von den 44 befragten Unter­nehmen mehrheitlich (82 Prozent) unterstützt. Der Zuspruch ist im Vergleich zum Vorjahr leicht angestiegen. Die in der Energiestrategie postulierten Ausbauziele für Windenergie werden eigentlich bereits übertroffen: Die grösseren Schweizer Energieunternehmen sind in den letzten Jahren stark in die Produktion von Windstrom eingestiegen. Allerdings befindet sich ein Grossteil der Kapazitäten nicht in der Schweiz, wie es die Energiestrategie eigentlich vorsieht. In der Umfrage befürworten dann auch über zwei Drittel der Befragten eine Anrechnung ausländischer Windenergieanlagen, um damit die Ziele der Energiestrategie zu erreichen.

Zwei Drittel der befragten Unternehmen beurteilen den geschäftlichen Erfolg 2015 als sehr gut oder gut. Als Hauptgrund werden hierfür günstige Einkaufspreise genannt. Über 60 Prozent der Befragten gehen auch für das laufende Jahr von ähnlich positiven Resultaten aus. «Diese knapp zwei Drittel repräsentieren den Grossteil der Schweizer Energieversorger, die keinen Strom produzieren, sondern diesen nur vertreiben. Die Ertragslage der wenigen grossen überregionalen Versorger mit eigener Produktion ist hingegen sehr kritisch, sie stehen unter grossem wirtschaftlichen Druck und sind daran, wertvolle Assets abzustossen, um liquide zu bleiben», erläutert Roger Müller, Partner bei EY Schweiz.

Uneinigkeit bei Förderung der Grosswasserkraft
Die vom Parlament im März 2016 verabschiedeten Unterstützungsmassnahmen zugunsten der Grosswasserkraft werden von knapp der Hälfte der Befragten als zielführend eingestuft, neun Prozent fordern sogar intensivere Massnahmen. Die Situation hat sich im Vergleich zum Vor­jahr nicht verändert. «Auch hier widerspiegelt sich die unterschiedliche wirtschaftliche Situation der Energieversorger: Eigentümer von Wasserkraftwerken werden die Unterstützungs­massnahmen begrüssen. Unternehmen ohne eigene Wasserkrafterzeugung sind wohl gegen eine einseitige Subventionierung von Teilen der Branche», sagt Alessandro Miolo.

Das aktuelle Fördersystem für erneuerbare Energien soll ab 2021 gemäss den Plänen des Bundesrates sukzessiv durch Lenkungsabgaben auf Benzin, Heizöl sowie Strom ersetzt werden. Über drei Viertel der Umfrageteilnehmer erachten dies als sinnvoll. Von den Len­kungsabgaben sollen gemäss Bundesrat Treibstoffe bis 2030 zunächst ausgenommen werden, die Mehrheit der Befragten spricht sich allerdings dagegen aus. Die Kritiker haben im Vergleich zum Vorjahr zugelegt, aus ihrer Sicht kommt diese Regelung einer Marktverzerrung gleich.

Wandel der Geschäftsmodelle wird zur Regel
Die Energieunternehmen müssen seit einigen Jahren mit sich stark verändernden Rahmenbe­dingungen klarkommen. Knapp die Hälfte der Befragten geben an, dass sich ihr Geschäfts­modell bereits stark bis sehr stark verändert hat. Und sie rechnen auch damit, dass der Wandel weitergeht. Nur 13 Prozent glauben, dass sich ihr Geschäftsmodell gar nicht oder nur leicht verändern wird.

Die Veränderungen gründen in verschiedenen Ursachen, die oft miteinander in Wechselwir­kungen stehen. Je nach Region und Land haben diese ein unterschiedliches Gewicht. Für die Schweiz werden die regulatorischen Rahmenbedingungen (70 Prozent) und die anstehenden oder antizipierten Marktreformen (66 Prozent) als zentral angeschaut. Etwas weniger wichtig werden für den Wandel das Vordringen neuer Wettbewerber in den Energiemarkt (48 Prozent) und die veränderten Kundenbedürfnisse (43 Prozent) gewichtet. Die Dezentralisierung der Energieerzeugung mit dem Ausbau der neuen Erneuerbaren (39 Prozent) und auch die Digitalisierung (36 Prozent) werden als weitere Gründe genannt. «Das regulatorische Umfeld und damit die Politik sind für die ganze Branche aktuell von zentraler Bedeutung. Kundenbedürfnisse und Wettbewerb werden aber als Treiber des Wandels an Bedeutung gewinnen, falls die vollständige Marktöffnung kommt», erläutert Alessandro Miolo.

Potenzial der Digitalisierung unterschätzt
Unter dem Begriff der Digitalisierung verstehen die Energieversorger in erster Linie die IT-gestützte Automatisierung von Geschäftsprozessen (80 Prozent). Aber auch Themen wie Smart Energy (umfasst Smart Grids, Smart Metering und Smart Home) sowie die Verfügbarkeit und Nutzung umfangreicher Datenanalysen werden von einer knappen Mehrheit der Befragten dem Themenkreis Digitalisierung zugeordnet. Der eigene Stand der Digitalisierung wird von den Unternehmen zurückhaltend bewertet: 16 Prozent stufen ihn als hoch ein, 50 Prozent als mittel und 34 Prozent als gering. Das klar grösste Potenzial der Digitalisierung sehen die Unternehmen im Vertrieb. Innerhalb der Unternehmen beschäftigen sich daher vor allem auch Vertrieb und Marketing sowie der Netzbereich vordringlich mit dem Thema.

«Die Antworten lassen darauf schliessen, dass die Unternehmen vor allem gesteigerte Effizienz und verbesserte Abläufe im Visier haben. Sie sehen in den digitalen Technologien Instrumente, um schneller ans Ziel zu gelangen. Die Digitalisierung hat aber das Potenzial, Geschäftsmodelle grundlegend zu verändern. Die Energieversorger müssen aufpassen, dass sie angesichts der vielen anderen Treiber des Wandels das Potenzial der Digitalisierung nicht unterschätzen», warnt Roger Müller. Digitalisierung müsse integrativ betrachtet werden, denn sie betreffe das Gesamtunternehmen, dessen Produkte, Geschäftsprozesse und Werte und könne nicht delegiert werden.

Im Gegensatz zu Deutschland sehen die Schweizer Energieunternehmen in den eigenen personellen Ressourcen und der mangelnden Qualifikation der Mitarbeiter weniger ein Hemmnis, um die Digitalisierung voran zu treiben – 23 Prozent Zustimmung gegenüber 40 Prozent in Deutschland. Einigkeit besteht jedoch darin, dass die notwendigen hohen Investitionen (43 Prozent) als auch die rechtlichen Unsicherheiten (36 Prozent) grosse Hindernisse auf dem Weg zur Digitalisierung darstellen. Die Studie zeigt weiter, dass Stadtwerke die Digitalisierung überwiegend als Chance (53 Prozent) und weniger als Bedrohung (12 Prozent) wahrnehmen.

Kooperationen als strategische Option im Zentrum
Befragt nach der Bedeutung verschiedener strategischer Optionen gaben die Befragten an erster Stelle Kooperationen an (77 Prozent). Erfolgversprechende Kooperationen sehen die Befragten vor allem mit benachbarten Energieunternehmen aus derselben Versorgungsstufe. Neue Geschäftsfelder stehen als strategische Option weniger im Fokus als in den Jahren zuvor. «Die Unternehmen dürfen ihre Flexibilität nicht verlieren und müssen wieder stärker auch Kooperationen ausserhalb der Komfortzone suchen.», ist Roger Müller überzeugt.

Als zentrale Themen für die kommenden Jahre bezeichneten die Unternehmen Absatz und Kundenbetreuung (86 Prozent) sowie Optimierung interner Prozesse (82 Prozent). Angesichts anhaltend tiefer Einkaufspreise werde das Thema Strombeschaffung (71 Prozent) an Bedeutung verlieren. Eine gesunkene Relevanz wird auch den Themen Qualifizierung von Nachwuchs, Investitionen in erneuerbare Energien und Aufbau neuer Geschäftsfelder zugewiesen. Die Bedeutung der Themen Innovationen für Geschäftsprozesse und Geschäftsmodelle ist um beinahe ein Drittel zurückgegangen auf noch 39 beziehungsweise 34 Prozent. «Insgesamt ist es erstaunlich und auch gefährlich, dass das Thema Innovation sehr stark an Anziehungskraft verloren hat», sagt Alessandro Miolo. (EY Schweiz/mc/ps)

Erläuterungen zur Studie
Die Expertenbefragung bei Entscheidern (Geschäftsführer oder Verwaltungsratspräsidenten) von Elektrizitätswerken und Energieversorgungsunternehmen der Schweiz fand im März 2016 statt. Befragt werden konnten 44 von insgesamt 204 Unternehmen in der Schweiz. Anhand eines standardisierten Fragebogens wurden computergestützte Telefoninterviews von durchschnittlich 40 Minuten Dauer durchgeführt. Umfragen mit einem Grossteil analoger Fragen wurden im selben Zeitraum auch bei der gleichen Zielgruppe in Deutschland und Österreich umgesetzt.

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