Der strapazierte Mittelstand

Mittlere Löhne steigen weniger stark als hohe und tiefe Gehälter.

Zürich – In den letzten 20 Jahren hat der Schweizer Mittelstand relativ zur Ober- und Unterschicht an Boden verloren. Die neuste Studie von Avenir Suisse zeigt, dass die mittleren Löhne zwar real gestiegen sind, aber weniger stark als hohe und tiefe Gehälter. Dem Mittelstand fällt es zunehmend schwer, sich nach unten abzugrenzen sowie aufzusteigen. Dieser Positionsverlust ist eine zentrale Ursache für die Unzufriedenheit im Mittelstand.

Ein Grund für die Schwächung des Mittelstands ist, dass auf dem Arbeitsmarkt weniger mittlere, dafür aber mehr höhere und niedrige Qualifikationen nachgefragt werden. Ein Lehrabschluss sichert die Position in der Mitte der Gesellschaft nicht mehr automatisch. Entsprechend hat sich das Lohngefüge in den letzten 20 Jahren verschoben. Die wichtigsten Ergebnisse:

  • Definition Mittelstand, 2-Personen-Haushalt (brutto/Jahr): 67‘000 bis 150‘000 Franken, 4-Personen-Haushalt (2 Erwachsene, 2 Kinder, brutto/Jahr): 94‘000 bis 210‘000 Franken.
  • Während die hohen Gehälter seit 1994 real um 10-15% gestiegen sind, konnten die Löhne des unteren und mittleren Mittelstands nicht Schritt halten – sie nahmen nur um 6-8% zu. Die tiefen Löhne haben mit realen Zuwächsen von 10% ebenfalls mehr zugelegt.
  • Trotz dieses relativen Positionsverlustes stiegen auch die mittleren Reallöhne seit 1994 deutlich. Absolut gesehen hat sich die ökonomische Lage des Mittelstands also verbessert.
  • Die Einkommensverteilung in der Schweiz ist gleicher als im OECD-Durchschnitt und deutlich gleicher als in den grossen Nachbarländern Deutschland, Frankreich und Italien. Im Gegensatz zu den nordischen oder den Benelux- Staaten wird ein hohes Mass an Gleichheit jedoch mit weniger staatlicher Umverteilung erreicht.
  • Das relative Zurückfallen der mittleren Löhne hängt mit dem wachsenden Lohnvorsprung (Bildungsprämie) der Hochschulbildung gegenüber tieferen Bildungskategorien zusammen.
  • Die Bildungsprämie einer tertiären Ausbildung gegenüber einer Berufslehre ist seit 1994 gestiegen, bei den Männern von knapp 35 auf 45 %, bei den Frauen von 27 auf 37 %.
  • Gleichzeitig stagnierten die Bildungsprämien von Arbeitnehmern mit einer Berufslehre gegenüber unqualifizierten Arbeitnehmern.
  • Diese Veränderungen sind eine Folge der Polarisierung der am Arbeitsmarkt nachgefragten Qualifikationen: Technologischer Fortschritt und die Auslagerung bestimmter Tätigkeiten setzen in erster Linie Jobs mit mittlerem Anforderungsprofil unter Druck.

Staatliche Umverteilung erschwert den Weg nach oben
Ein weiterer Grund für die Verunsicherung im Mittelstand ergibt sich aus der Staatstätigkeit. Der Staat pflügt über unkoordinierte Steuern, Tarife und Transfers die Einkommensverteilung um, wobei sich die Umverteilung für den Mittelstand oft als Nullsummenspiel erweist. Dies zeigt eine Analyse der Staatsaktivität und ihres Einflusses auf das Einkommen und die Wohlfahrtsposition:

  • Im Mittelstand entscheidet weniger das im Markt erzielte Lohneinkommen über die relative Wohlfahrtsposition als das Ausmass, in dem die Haushalte von staatlichen Leistungen profitieren bzw. von Steuern- und Abgaben belastet werden.
  • Nach Abgaben und Transfers findet sich ein erheblicher Teil des erwerbstätigen Mittelstands in der Nähe der Grenze zur Unterschicht wieder. Gleichzeitig rückt der Staat mit finanziellen und realen Transfers viele tiefe Einkommen in die Nähe des unteren Mittelstands.
  • Der Mittelstand kann sich nur noch schwer nach unten abgrenzen, gleichzeitig wird ihm der Weg nach oben erschwert: Einkommensabhängige Tarife (externe Kindebetreuung und Verbilligung der Krankenkassenprämien) führen bei Familien, in denen beide Elternteile arbeiten, zu impliziten Grenzsteuersätzen von bis zu 90 Prozent des Zweitverdienstes.
  • Dies schafft ein massives Anreizproblem: es hemmt die Arbeitspartizipation von Frauen und behindert die für den Mittelstand wichtige Möglichkeit zum schrittweisen Aufstieg.

Ausführliche Zusammenfassung des Buches

(Avenir Suisse/mc/ps)

Publikation:
«Der strapazierte Mittelstand – Zwischen Ambition, Anspruch und Ernüchterung» von Patrik Schellenbauer und Daniel Müller-Jentsch, 292 S., ISBN 978-3-03823-807-2, Avenir Suisse und Verlag Neue Zürcher Zeitung, 38.- Fr., ab 16. November im Buchhandel. Mit Gastbeiträge von Reto Föllmi, Josef Zweimüller, Monika Bütler, Harold James (Princeton), Dieter Freiburghaus

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