Bergsturz in Brienz: Interview mit Niels Hovius vom GeoForschungsZentrum GFZ

Bergsturz in Brienz: Interview mit Niels Hovius vom GeoForschungsZentrum GFZ
Prof. Dr. Niels Hovius, Leiter der GFZ-Sektion 4.6 „Geomorphologie“. (Foto: Reinhardt & Sommer)

In Graubünden bedroht ein schwerer Bergsturz das Dorf Brienz/Brinzauls. Der Berghang ist schon länger in Bewegung. Auch das Deutsche GeoForschungsZentrum GFZ sammelt seit Jahren vor Ort Daten. Prof. Dr. Niels Hovius, Leiter der GFZ-Sektion 4.6 „Geomorphologie“, äussert sich über die Entwicklungen und die GFZ-Forschung vor Ort.

Niels Hovius, Sie und ihr Team forschen am Berghang oberhalb Brienz seit zweieinhalb Jahren. Warum ist die Gegend interessant?

Die gesamte Struktur, zu der der Berghang gehört, ist vermutlich seit dem Ende der letzten Eiszeit vor mehr als 10.000 Jahren in Bewegung, als die von den Gletschern steil gewordenen Talhänge von ihrer Eislast befreit und von Flüssen unterspült wurden. In dieser Region der Alpen hat es im Laufe der Geschichte viele grosse Erdrutsche gegeben. Zum Beispiel 1877 den sogenannten „Igl-Rutsch“, bei dem rund 13 Millionen Kubikmeter Geröll abgingen, also mehr als das sechsfache des aktuellen Volumens. Das war ein langsamer Erdrutsch, der mehrere Wochen gedauert hat. Der Rutsch endete nicht in einem Steilhang, sondern schloss direkt an den sanfteren Hang einer Geländestufe oder Terrasse an, auf der das Dorf Brienz liegt. Das war vermutlich ein Grund dafür, dass er keine schnell abgehende Lawine ausgelöst hat. Die Terrasse selbst ist jedoch in einen viel grösseren Erdrutschkomplex eingebettet, der sich bis in die Talsohle erstreckt. Auch dieser Komplex ist in Bewegung und diktiert das Geschehen in ihm, einschliesslich der aktuellen Instabilität hoch über dem Dorf.

Das Dorf ist jetzt akut bedroht. Aber die Gegebenheiten sind andere…

Der beweglichste Teil des grossen Erdrutschkomplexes wird die „Insel“ genannt. Er befindet sich an der Spitze einer grossen vegetationslosen „Narbe“, die durch frühere Massenabgänge im Hang entstanden ist. Die „Insel“-Masse bewegt sich seit Jahren mit zunehmender Geschwindigkeit abwärts: von einigen Metern pro Jahr in der Mitte der 2010er Jahre bis zu über 40 Metern pro Jahr Anfang Mai 2023.

Dabei bricht die „Insel“ nach und nach auf und wirft am unteren Ende kleinere Gesteinsbrocken ab. Dieses Geröll gelangt in einen steilen Hang, so dass grosse Felsbrocken mit hoher Geschwindigkeit herabstürzen und auf die Felder rund um das Dorf rollen können: Es ist fast wie bei einem Eisfall, bei dem sich ein Gletscher über eine steile Felsstufe bewegt. Dies hat die Situation besonders gefährlich gemacht.

Die starke Beschleunigung des Inselabschnitts veranlasste uns schliesslich auch, Instrumente rund um den Erdrutsch zu installieren.

Welche möglichen Szenarien sehen Sie für die Entwicklung in den kommenden ein, zwei Wochen?

Es gibt mehrere Möglichkeiten: Ich halte es für das wahrscheinlichste Szenario, dass die Häufigkeit und das Ausmass der Felsstürze allmählich zunehmen werden, wenn die „Insel“ über eine Felsstufe in der Mitte des Hangs rutscht. Dies wird die Ausbreitung der Trümmer begrenzen, aber grosse Felsbrocken könnten über die Landstrasse hinweg in das Dorf krachen. Auch die Freisetzung einer grösseren Masse, möglicherweise rund eine Million Kubikmeter Geröll, ist möglich. Aufgrund der Steilheit des Abhangs unterhalb der „Insel“ und ihrer Länge dürfte dies nicht so langsam vonstattengehen wie beim Igl-Rutsch im Jahr 1877. Stattdessen ist die Auslaufstrecke einer solchen grösseren Masse wahrscheinlich grösser, mit entsprechenden Auswirkungen auf das Dorf.

Andererseits kann diese Phase der Aktivität irgendwann abklingen, wenn der Reibungswiderstand gegen die Bewegung der Insel zunimmt, weil sich die bewegliche Masse ausdünnt.

Blick auf den rutschenden Hang an der Flanke des 2767 Meter hohen Berges Piz Linard oberhalb von Brienz/Brinzauls. (Foto: Kristen Cook)

Was erwarten Sie für längerfristige Effekte?

Im grösseren Zusammenhang betrachtet ist die „Insel“ nur ein Teil, ein „Stück Material“ innerhalb eines grösseren, tief-sitzenden Komplexes. Der Kopfhang hinter der „Insel“ ist von tiefen Gräben durchzogen, die ein Versagen in der Spannung markieren: Es entstehen neue Inseln, die sich dem langsamen, aber unaufhaltsamen Abgleiten der Bergflanke ins Albulatal anschließen. Insofern ist die aktuelle Krise ein Moment in einer grösseren Geschichte, die sich über weitere Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinziehen wird.

Ein Blick in die weitere Zukunft ist natürlich ebenfalls etwas spekulativ: Die Ablagerung einer grossen Felsmasse auf der Brienzer Terrasse könnte eine Beschleunigung des unteren Teils des Rutschkomplexes verursachen. Dieser Bereich hat sich in den letzten Jahren schneller bewegt, und es könnte eine interne Rückkopplung stattfinden. In diesem grösseren Zusammenhang liegt meines Erachtens der Schlüssel, um die künftige geologische Entwicklung in der Brienzer Umgebung zu verstehen.

Welche Rolle könnte der Klimawandel bei den aktuellen Ereignissen spielen?

Bergrutsche und Felsstürze sind natürliche Ereignisse und in Gebirgslandschaften kaum vermeidbar. Diese Massenbewegungen werden durch die Schwerkraft angetrieben. Sie finden an steilen Hängen statt, die wiederum durch andere Prozesse entstanden sind. Und sie werden häufig durch das Eindringen großer Wassermengen oder Erschütterungen wie Erdbeben geschmiert und ausgelöst.

Die steilen Hänge des Albula-Tals haben sich über glaziale und interglaziale Zeitskalen hinweg gebildet. Diese Region hat in der Nacheiszeit, also in den letzten rund 10.000 Jahren, viele sehr grosse Hangrutschungen erlebt. Ein berühmtes Beispiel ist der Flimser Bergsturz mit einem Volumen von 9 Kubikkilometern, der sich nicht so weit entfernt vor etwa 9.500 Jahren ereignete.

Die jüngere Aktivität in den steilen Hängen oberhalb von Brienz findet auf 1.600-2.000 m ü. M. statt, also weit unterhalb aktueller Permafrostregionen: Das Auftauen des Permafrosts durch höhere mittlere Atmosphärentemperaturen ist hier also nicht der Auslöser. Das war beim grossen Ereignis am Piz Cengalo im Jahr 2017 im nahen Bergellgebiet vermutlich anders.

Was die Massenbewegung, die wir jetzt beobachten, vermutlich in den 1800er Jahren ausgelöst hat, ist mir nicht klar. Landnutzungsänderungen können Hanginstabilitäten verursachen, aber hier ist es wahrscheinlicher, dass die fortschreitende langsame Bewegung des tieferen Rutschungskomplexes, in dem sich die „Insel“ befindet, höhere Hänge unterhalb des Piz Linard aktiviert hat.

Der Abbruch und das Versagen von Masse an der Spitze dieses Komplexes hat sich schon einmal ereignet, bevor die menschengemachte Erderwärmung begann, und ich glaube nicht, dass der Klimawandel hier eine unmittelbare Rolle spielt.

Wenn sich die Niederschlagsmengen jedoch allmählich ändern, hat dies Auswirkungen auf die Muster und die Wahrscheinlichkeit von Massenabgängen in Gebirgen. Auf dieser Ebene ist die Rolle des Klimawandels am einfachsten zu erkennen.

Inwiefern wird das Ereignis denn von Niederschlag beeinflusst oder gar getrieben?

Die Rolle von Wasser bei solchen Prozessen ist sehr komplex. Die „Insel“ beschleunigt sich seit vielen Monaten: Der letzte Sommer war aussergewöhnlich trocken, ebenso wie der letzte Winter. Der Grundwasserspiegel in der Region ist erschreckend niedrig, und trotzdem hat sich die Inselmasse jetzt beschleunigt.

Es war zwar nass in den letzten Wochen, aber ich glaube nicht, dass wir wirklich verstehen, auf welcher Zeitskala das Wasser diese spezielle Episode oberhalb Brienz steuert und auf welche Weise es das tut. Wasser kann natürlich eine Bruchfläche schmieren. Aber Wasser kann auch die Masse über der Bruchfläche erhöhen. Der letztgenannte Effekt würde dazu führen, dass der Reibungswiderstand beim Gleiten mit der Befeuchtung zunimmt bzw. beim Trocknen abnimmt. Unterdessen würde sich der Verlust der Kohäsion des Hangmaterials, also sein schwindender Zusammenhalt, aufgrund von Nässe negativ auf die Hangstabilität auswirken.

Wie all dies zusammenhängt, ist mir in diesem Fall nicht klar, da wir nicht über alle Informationen verfügen, die wir für eine Bewertung benötigen. Es könnte jedoch sein, dass die hydrologischen und geomechanischen Beobachtungen, die die Fachleute machen, welche zur Gefahrenabschätzung mit der Überwachung des Erdrutsches beauftragt sind, Aufschluss über diesen entscheidenden Aspekt geben.

Sie sind seit einigen Jahren in der Umgebung von Brienz als Forschende aktiv. Was untersuchen Sie dort?

Unser Team arbeitet ganz grundsätzlich an der Entwicklung seismologischer Ansätze, um Prozesse an der Erdoberfläche zu beobachten und zu überwachen. Wir zeichnen also die Erschütterungen des Bodens mit Seismometern auf und wollen daraus etwas lernen.

Im Fall des Brienzer Bergsturzes wollen wir aufzeichnen, was in der Tiefe innerhalb der sich bewegenden Masse vor sich geht. Wir wollen eine vollständige Aufzeichnung darüber haben, wann und wo Felsen an die Oberfläche stürzen und wir wollen versuchen, die Veränderungen in den Eigenschaften der Bodenmasse im Laufe der Zeit zu ergründen.

Weshalb eignen sich Seismometer als Messgeräte besonders dafür?

Wir platzieren die Seismometer am Boden, wo sie Erschütterungen des Untergrunds registrieren. Weil die sich im Boden als seismische Wellen ausbreiten, lassen sie sich auch über grössere Distanzen messen. Aus den Laufzeiten der Wellen und ihren Amplituden lassen sich Rückschlüsse über den Ursprung und die Stärke von Prozessen im Erdinneren oder an der Oberfläche gewinnen.

Im Falle der Felsstürze ist das auf den ersten Blick – im Gegensatz etwa zur Beobachtung mit anderen Instrumenten wie Kameras – eine eher indirekte Messmethode, die aber viele Vorteile hat: Wenn die Prozesse, die wir untersuchen, zerstörerisch sind, können Instrumente vor Ort mit den Daten an Bord verloren gehen. Wenn ein Prozess in der Tiefe, unter der Erde oder unter Wasser stattfindet, ist es schwierig, Messungen genau am Ort des Geschehens durchzuführen. Und wenn die Aktivität irgendwo stattfinden kann, ist die Instrumentierung eines Ortes keine Garantie für eine nützliche Beobachtung. In all diesen Fällen kann die Aufzeichnung der durch Oberflächenprozesse verursachten Bodenschwingungen helfen, Erkenntnisse zu gewinnen.

Wie nutzen Sie das nun vor Ort in Brienz?

Im Rahmen unseres Forschungsprojektes hat Michael Dietze eine Reihe von Seismometern installiert, die Erschütterungen am Boden aufzeichnen. Sie sind im oberen Teil des Brienzer Bergsturzes und an dem sich langsam bewegenden Körper unterhalb des Dorfes angebracht. Auf diese Weise haben wir ein Netzwerk geometrisch so ausgelegt, dass wir den ganzen Hang abdecken. Damit können wir auf Basis von Triangulation ermitteln, wann, wo und in welcher Tiefe etwas mit welcher Energie passiert. Die Seismometer zeichnen seit 2,5 Jahren kontinuierlich Daten auf, die wir allerdings nicht permanent abrufen. Für unsere wissenschaftlichen Zwecke reicht es aus, dass wir sie ungefähr alle drei Monate auslesen.

Wir haben diesem Netzwerk jetzt weitere Knoten hinzugefügt, um die heisse Phase der Krise genauer zu erfassen. Wir sind zwar nicht an der Überwachung und Planung des Zivilschutzes beteiligt – die lokalen Behörden sind gut informiert und beraten –, aber wir stehen in Kontakt mit ihnen, sie wissen, dass wir dort arbeiten, und das tun wir in ihrem Sinne.

Wenn es in diesem Fall nicht die Frühwarnung ist: Was steht stattdessen im Fokus ihrer Forschung?

Ziel unserer Forschung ist es, die in der Tiefe ablaufenden Prozesse innerhalb der Rutschmasse zu verstehen und die Bedingungen zu ermitteln, durch die Veränderungen im Rutschverhalten verursacht werden. Wir sind auch daran interessiert, die Entwicklung des Ausmasses und der Häufigkeit von Felsstürzen im Detail zu erforschen.

Im Sinne unseres generellen Interesses an der Entwicklung seismologischer Ansätze wollen wir ausserdem Vorläuferphänomene identifizieren, die mit einfachen Instrumenten und nicht mit den aufwendigen Installationen, die rund um diesen Erdrutsch vorhanden sind, erkannt werden können. Damit lassen sich dann auch weniger gut erschlossene Regionen der Erde so überwachen, dass eine Frühwarnung vor drohenden Gefahren möglich ist.

GFZ Potsdam

One thought on “Bergsturz in Brienz: Interview mit Niels Hovius vom GeoForschungsZentrum GFZ

  1. vielen Dank für Ihre ausführliche Erklärung, sie ist sehr bildhaft und auch für uns Laien gut verständlich (habe alles gespannt gelesen! bert. Flimserstein: da war doch noch was «kleineres» im letzten Jh, als das Zürcher Kinderheim verschüttet wurde – passt offenbar voll in dieses Raster…)

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