Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Bruttofortschritt

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Bruttofortschritt
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Der sowjetische Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratjew gilt als Vater der nach ihm benannten langen Konjunk­turzyklen, die über Jahrzehnte Bestand hatten, und an deren Anfang meist eine technologi­sche Neuerung stand. In der Regel waren es Basis- und kei­ne Erneuerungsinnovationen. Dazu zählte Kondratjew bei­spielsweise die Dampfmaschine und auch die Möglichkeit Baumwolle zu verarbeiten zu Beginn des 19. Jahrhunderts oder die Lokomotive und Stahl(verarbei­tung). Das Aufkommen der Informationstechnologie wird von vielen ebenfalls als ein neuer Kondratjew gewertet und damit auf dieselbe Stufe gehoben wie das Aufkom­men der Elektrotechnologie und Chemischen Industrie bzw. der Petroindustrie und des Automobils. Man kann Kondratjew leider nicht fragen, ob er die Informations­technologie tatsächlich als einen weiteren Megazyklus eingeordnet hätte, denn er fiel im September 1938 nach über achtjähriger Haft der stalinistischen Säuberung zum Opfer.  

Externalitäten oder die Kehrseite der Innovationen
Zweifellos löste die Erfindung des Automobils einen Quantensprung in der Menschheitsgeschichte aus, eben­so wie die unzähligen Produkte der Chemischen Indust­rie. Eine Welt ohne diese Basisinnovationen ist heute kaum vorstellbar, doch wissen wir nicht erst seit den historisch prominentesten Unfällen in Bhopal oder im Industriegebiet Schweizerhalle bei Basel um die Gefahren der Chemie. Und die Petro- und Automobilindustrie sind trotz technologischer Verbesserungen nach wie vor eine grosse Belastung für unser Ökosystem. In der ökonomi­schen Theorie spricht man von (negativen) externen Ef­fekten oder Externalitäten, wenn ein Produkt nicht nur direkten Nutzen stiftet, sondern auch Schaden zufügt. Schaden, für den wohlgemerkt kein Preis erhoben wird, und der von der Allgemeinheit getragen wird. Ein Auto oder Flugzeug hilft uns zwar, grosse bis riesige Distanzen äusserst bequem zu überwinden und dabei erst noch viel Zeit zu sparen, erzeugt aber durch etliche Emissionen auch negativen Nutzen, in dem Lebensqualität oder gar Gesundheit beeinträchtigt werden. Dieser negative externe Effekt ist leider oft im Preis nicht oder unzureichend berücksichtigt, auch wenn heute Ökosteuern oder CO2­Zertifikate diesem Umstand wenigstens zum Teil Rech­nung zu tragen versuchen.

Im Bereich der Informations­technologie ist das nicht anders und es wäre an der Zeit, sich darüber nicht nur Gedanken zu machen, sondern zu handeln. Ich denke dabei weniger an Gebühren für den ganzen Hardwareschrott, der in Drittweltländern frag­würdig entsorgt oder rezykliert wird bzw. die Arbeitsbe­dingungen, die in manchen Zulieferbetrieben der Welt­marktführer der Informationstechnologien vorherrschen, sondern an ganz andere negative Externalitäten, die heute noch überhaupt nicht ins Kalkül der Anbieter und somit in die Endverkaufspreise einfliessen. Seit Januar 1986 hat der Landesindex der Konsumentenpreise um 48% zugelegt. Die Telekommunikationspreise sind im selben Zeitraum um 51% gesunken und nicht nur, weil die staatlichen Monopole fielen, sondern auch wegen der enormen Produktivitätssteigerungen, welche die Telekommunikation und Informatik in diesem Zeitraum erfuhren. Und weil ihnen nur die direkten Kosten belastet werden.

Nonstop oberflächlich erreichbar und limitiert ver­fügbar
Wir alle mögen uns darüber freuen, dass unsere perma­nente Erreichbarkeit immer günstiger wird und wir fast überall und jederzeit Zugriff zum weltweiten Netz genies­sen, übersehen dabei doch, dass der Preis dafür höher ist, als der den wir dafür bezahlen. Als ich letzten Freitag von Zug nach Zürich fuhr, überholte ich 128 Fahrzeuge und beobachtete dabei 51 Fahrerinnen und Fahrer, die ihr Handy bedienten oder es am Ohr hielten. Wahrscheinlich haben sie auch schon oft erlebt, dass vor Ihnen bei Grünlicht Stillstand herrschte, weil der Blick des Fah­rers nicht auf die Ampel sondern auf sein Handy gerich­tet war. Es gibt – leider nur wenige – Fakten dazu. In der Schweiz telefonierten 2012 fast 14 % der Radfahrer während der Fahrt und 8% sandten SMS. Bei den 15 – 29 Jährigen waren es 21% bzw. 28%. 2012 wurden wegen Ablenkung am Steuer wegen SMS oder Telefonie­rens 7% mehr Fahrausweise eingezogen als das Jahr zuvor. 8328 Unfälle waren allein darauf zurückzuführen. Und gemäss einer von der Allianz-Versicherung im Jahre 2013 hierzulande durchgeführten Umfrage, gaben 40% der Befragten zu, am Steuer zum Handy zu greifen, 30% hin und wieder SMS zu lesen und 20% (!) solche zu schreiben.

In den USA hat sich in knapp sechs Jahren der Anteil verunfallter Fussgänger infolge Handynutzung mehr als versechsfacht. Das sind Fakten, die nicht von der Hand zu weisen sind, aber nicht zur Euphorie um den Technologiehype passen. Und sie sind wahrscheinlich nur die Spitze des Eisberges. Vielleicht werden wir schon bald wissen, dass der aufrechte Gang des Homo erectus wie­der einer Halsstarre Platz macht, unsere Konzentrations­fähigkeit verloren geht, wissenschaftliches Arbeiten durch Google-Recherchen abgelöst werden und soziale Kompetenz sowie Familienbande durch Facebook und WhatsApp ersetzt werden. Um Auto zu fahren, benöti­gen wir einen Fahrausweis, Handy und Co benötigen keine Qualifikationen und erzeugen Kosten, die heute schon und in Zukunft zunehmend der Allgemeinheit angelastet werden oder Arbeitgeber Milliarden – Stich­wort privates Surfen, Selfies etc. – kosten. Es wird dringend Zeit, Nutzung und Preis zu überdenken, vor allem wenn man bedenkt, was im weltweiten Netz wirklich boomt. Wer Sex in Google eingibt, erzielt 435 Millionen Treffer, «games» bringt es auf 340 Millionen Ergebnisse und Inflation auf klägliche 10,7 Millionen. Die vielge­rühmte Nachhaltigkeit muss auch in der Informations­technologie und vor allem im weltweiten Netz ein Thema werden. Denn netto betrachtet ist ihr Nutzen wahr­scheinlich marginal, vielleicht gar negativ. (Raiffeisen/mc/ps)

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