Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Europa der Statements, gleichgültige Märkte

Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Europa der Statements, gleichgültige Märkte
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Während wir in der Schweiz noch von einem nicht enden wollenden Altweibersommer gestreichelt werden, ist es auf der Balkanroute bitter kalt geworden. Schon jetzt fliegen uns täglich Meldungen von frierenden und erschöpften Flüchtlingen um die Köpfe und die Bilder dazu machen sprachlos. Es ist also keine Zeit mehr übrig, zu lamentieren. Es muss gehandelt werden in der sogenannten Europäischen Union.

Doch wer sagt überhaupt, was Europa tun soll? Wer in Europa, in welchem Europa? Und wer ist Europa? Ungarn oder Deutschland? Europa funktioniert nicht, wie sich das die Funktionäre in Brüssel vorstellen. Man muss sich in diesen Tagen sogar ernsthaft fragen, ob Europa als Begriff einer wie auch immer gearteten Einheit überhaupt existent ist, ausser dass alle auf demselben Kontinent leben.

Man denke zurück an den Stabilitätspakt, eine Begrifflichkeit, die die verschiedenen Mitglieder des besagten Paktes nicht nur ad absurdum geführt haben. Sie haben es sogar geschafft, ihn dermassen zu strapazieren, dass nur noch die Europäische Zentralbank die Pleite in Europa abwenden konnte und seitdem bekanntlich das Zepter schwingt. An der ersten grossen Herausforderung ist die Währungsunion kläglich gescheitert. Die Schuldenkrise 2011 und die «Griechenlandrettung» im Sommer dieses Jahres haben die Unfähigkeit Europas unter Beweis gestellt, rasch und wirksam zu reagieren, wenn es mal richtig brennt.

Erinnern wir uns zurück, wie Europa agiert. In der Eurokrise zeigte man sich zunächst überrascht über die Wucht der Geschehnisse und begann zu «gipfeln». Vom Gipfel der Finanzminister über den Gipfel der Regierungschefs und zurück war Europa nie verlegen, mit staatsmännischen Statements Einheit zu demonstrieren. Und so verplemperten die Exekutiven Europas Zeit und Geld mit Statements zum Festhalten an der Einheitswährung und am gemeinsamen Weg bis sie das Feld unverrichteter Dinge verliessen und Mario Draghi aufboten. Der sprang noch so gern in die Rolle des Super Mario.

In der Griechenlandkrise 2015 bewies Brüssel vermeintliche Geduld mit den Eskapaden des damaligen griechischen Finanzministers Varoufakis und dessen Regierungschef Tsipras, obwohl man längst damit am Ende war. Auch hier musste die EZB der zögernden und strauchelnden Exekutive schliesslich die Stange halten, sonst wäre Griechenland Mitte Juli wohl gezwungen gewesen, aus der Währungsunion auszuscheiden. Es gab einige, die einem Ausscheiden Griechenlands aus dem Währungsverbund nicht gross nachgetrauert hätten. Der nur mit Hilfe der EZB ausgefeilschte faule Kompromiss, als Durchbruch gefeiert und als Griechenlandrettung hoch gespielt, vertagte das Problem lediglich, aber weit genug, um sich mit dessen Lösung nicht mehr beschäftigen zu müssen und sie kommenden Generationen zu überlassen. Vertagen mit Statements, das ist das aktuelle Modell der Krisenbewältigung in der Europäischen Union. Was du heute musst besorgen, das, kündige an, machst du morgen.

Milliarden für Menschlichkeit?
Das funktioniert nun aber nicht mehr. Das Flüchtlingsproblem lässt sich nicht mehr länger verschieben. Doch stattdessen beargwöhnen sich die Staaten und halten Gipfel ab. Sie sind nicht bereit, auf eine europäische Lösung hinzuarbeiten, denn jeder hat auf dem Weg nach Brüssel nur Statements im Gepäck. Der Europäische Gedanke erodiert an den Eigeninteressen der Staaten. Die Verzweiflungstat Angela Merkels, die Grenze zu öffnen ist eigentlich der Anfang des Bankrotts des europäischen Gedankens. So wie Maastricht, sind auch die Abkommen von Schengen oder Dublin ausgehebelt. Dabei darf es nun gar keine Rolle mehr spielen, auf welchem (nationalen) Boden sich das Flüchtlingselend abspielt. Es ist ein europäisches Elend, dem gemeinsam zu begegnen ist. Wenn es nicht gelingt, alle von der Strasse zu holen, die sich auf dem beschwerlichen Weg in die wenigen Länder mit einer sich jedoch erschöpfenden Willkommenskultur befinden, hat Europa als Ganzes wohl verloren. Es kann auch nicht sein, dass Forderungen mit der Aufnahme von Flüchtlingen verbunden worden, geschweige denn finanzielle. Aber so weit wird es bald sein. Aus dem grossen Honigtopf in Brüssel werden Milliarden fliessen, für etwas mehr Menschlichkeit im europäischen Gedanken. Für einmal kauft die EU nicht nur Zeit, sondern rettet mit ihrem Geld Menschenleben.

Märkte unberührt
Und die Finanzmärkte? Kein Zucken wegen der Flüchtlinge und nicht die Spur einer Korrektur nach den Massakern von Paris am vergangenen Wochenende. Die Finanzmärkte gehen gewöhnlich recht nonchalant und unsensibel mit humanitären Fragen um. Das weiss man. Sie haben auch nie das Gespür für geopolitische Umbrüche, denn diese betreffen eine Zukunft, die über den (Anlage)Horizont von Händlern oder Investoren hinausgehen. Umbrüche sind für die Märkte solange irrelevant, wie sich die Perspektiven nicht verdüstern. Dabei sagt die Ohnmacht Europas, in der Flüchtlingsthematik geeint aufzutreten, sehr viel über die Perspektiven dieser Union. Die waren auf jeden Fall schon mal besser und das ist gar nicht so einfach.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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