Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Fünf nach Zwölf

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Fünf nach Zwölf
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Wir haben es alle satt – nicht nur die sogenannten oder selbsternannten Coronaskeptiker. Das Virus macht uns kirre. Nichts sehnen wir uns mehr herbei als wieder so zu leben wie damals, als COVID-19 noch weit weg war. Dummerweise erhört das Virus unsere Bitten nicht, gibt sich weiter widerspenstig und bleibt unberechenbar. Deshalb ist weiter Durchhalten gefragt, was uns die Landesregierung jüngst und für Schweizer Verhältnisse ziemlich deutlich mitteilte.

Durchhalten im Interesse unser aller Gesundheit, aber auch im Interesse der Wirtschaft. Denn viel schlimmer als Maskenpflicht oder Tanzverbot wäre ein zweiter Lockdown der Wirtschaft. Wenigstens in dieser Frage besteht hierzulande ein sehr breiter Konsens.

Andererseits zeichnet sich immer deutlicher ab, dass das mit der V-Erholung nichts wird. Wer meinte, dass sich die Wirtschaft sehr rasch wieder erholen würde, so dass im Rückblick «nur» von einem extrem heftigen, dafür aber kurzen Einbruch die Rede sein würde, wird nun von der herbstlichen Realität eingeholt. Inzwischen sind es nicht mehr nur die exponentiell gestiegenen Fallzahlen, welche Anlass zur Sorge geben, sondern auch die neuen Spitaleintritte und leider auch die coronabedingten Todesfälle. In manchen Ländern, ja selbst in dem einen oder anderen Kanton der Schweiz, werden die Intensivbetten bereits wieder knapp.

Irland verkündete eben als erstes EU-Land einen Corona-Lockdown. In den Niederlanden, wo die Fallzahlen jüngst explodierten, gilt ein Teil-Lockdown. Diesen muss man wohl als eine Art letzter Warnung interpretieren, denn die Holländer halten sich kaum an die Regeln. Das erinnert ein bisschen an unser Land. Geselligkeit geht auch in den Niederlanden der Gesundheit vor. Das hat Premier Mark Rutte nun deutlich adressiert. Wenn die Disziplin nicht zunimmt, droht auch den Holländern ein vollständiger Lockdown. Frankreich, Grossbritannien, Spanien, fast in allen europäischen Ländern wird derzeit die Schraube wieder angezogen. Etliche Staaten Europas dürften in den kommenden Tagen oder Wochen noch weitere Verschärfungen vornehmen, die allesamt die Bevölkerung auf eine harte Probe stellen werden.

Nochmal minus?
Vor allem aber werden sie den Volkswirtschaften einen weiteren Rückschlag bescheren. Noch wird fast überall versucht, einen kompletten Lockdown zu vermeiden, aber allein schon die bis heute beschlossenen Massnahmen könnten uns im vierten Quartal 2020 einen neuerlichen Einbruch bescheren. Das BIP-Wachstum wird hierzulande im vierten Quartal vielleicht sogar schon wieder negativ ausfallen. Was aber fast noch schwerer wiegt als die quantitative Dimension ist das sich wieder rapid verschlechternde Sentiment, sprich die gemütsmässige Verfassung vieler Wirtschaftsakteure.

Etliche Unternehmen hatten gehofft, wir hätten im Sommer den Tiefpunkt durchschritten. Die zweite Welle hat diese Hoffnungen nun definitiv zunichte gemacht. Nicht wenige Unternehmer werden sich nun die Frage stellen, ob sie sich und ihrem Betrieb eine zweite Rosskur überhaupt noch zumuten können und wollen. Denn Unsicherheit in dem jetzigen Format ist pures Gift für Entscheidungen, welche sich auf die Zukunft auswirken. Mit Unsicherheiten umzugehen ist durchaus unternehmerisches Tagesgeschäft, nicht aber mit einer Pandemie.

Dazu kostet jeder Tag mit schwacher Auslastung unternehmerische Substanz und irgendwann ist dann das Instrument der Kurzarbeit letztlich nur noch eine Verlängerung des Leidenswegs, ebenso wie COVID-19 Kredite. Schon die jetzigen Beschlüsse des Bundesrates, die gemessen am Ausland noch höchst moderat ausgefallen sind, dürften lähmende Wirkung auf den Wirtschaftsgang entfalten. Mehr Home Office bedeutet automatisch auch weniger Umsatz in Läden und Restaurants. Wir werden dies in den nächsten Tagen bereits wieder an den Mobilitätsdaten ablesen können. Die Maskenpflicht schlägt ohnehin schon auf die Konsumlaune. Eine Branche wie der stationäre Detailhandel, der schon fast zwei Jahrzehnte einen selbstmörderischen Preiswettbewerb inszeniert, wird somit weiter geschwächt. Dasselbe gilt für das Gastronomiegewerbe.

Allein schon der massive Konjunktureinbruch hat etliche Betriebe nahe an den Rand des Abgrunds getrieben. Eine W-förmige Konjunkturentwicklung in den kommenden Quartalen könnte die ohnehin schon bestehenden strukturellen Defizite in vielen Branchen schonungslos aufdecken. Und je länger die Unsicherheit darüber, ob und wann wieder mehr als nur ein Fünkchen der gewohnten Normalität in die Wirtschaft zurückkehrt, anhält, desto weniger werden die Entscheidungsträger in den Unternehmen auf die sonst bewährten automatischen Stabilisatoren zurückgreifen. Exakt an diesem Punkt stehen wir heute. Es ist leider schon nach zwölf und Schadensbegrenzung und nicht -vermeidung angesagt.

Winterzeit
Der «Ruck», welchen unsere Bundespräsidentin in ihrem letztwöchentlichen Appell an die Bevölkerung auslösen wollte, muss daher rasch kommen. Wer jetzt noch nicht begriffen hat, was es geschlagen hat, der spielt nicht nur mit seiner eigenen Gesundheit und derjenigen anderer Mitbürgerinnen, sondern setzt auch die Prosperität des gesamten Landes aufs Spiel. Denn wenn das Gesundheitswesen wieder richtig in Stress gerät, dann droht auch hierzulande eine Verschärfung der Restriktionen. Einen nochmaligen Taucher wie den im zweiten Quartal 2020 dürfte die Wirtschaft insgesamt kaum mehr so «glimpflich» wegstecken. Die Betroffenheit nach Branchen dürfte dann breiter ausfallen. Kommenden Sonntag stellen wir die Uhr zurück, auf Winterzeit, vielleicht sogar ein letztes Mal. Danach tickt die Uhr pausenlos weiter. Mit einem letzten Ruck schaffen wir es vielleicht auch, die Coronauhr zurückzustellen. Einmal wenigstens, wieder auf fünf vor zwölf. (Raiffeisen/mc/pg)

Martin Neff, Chefökonomen Raiffeisen

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