Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Nutzloses Wachstum in die Breite

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Nutzloses Wachstum in die Breite
Fredy Hasenmaile, Chefökonom von Raiffeisen Schweiz. (Bild: Raiffeisen)

In der Schweiz stagniert der Wohlstand pro Kopf. Das moderate BIP-Wachstum widerspiegelt in erster Linie das Bevölkerungswachstum. Die Schweiz wächst also nur noch in die Breite. Wenn von der höheren Wertschöpfung beim Einzelnen kaum etwas ankommt, wird es zunehmend schwieriger, die Nebenwirkungen des Wachstums zu ertragen – überfüllte Züge, mehr Staus und Wohnungsmangel. Klagen über den Dichtestress sind daher omnipräsent.

Nur verhaltenes Wachstum in Sicht
Die Klagen dürften so bald nicht abreissen, denn ein höheres Wachstum ist nicht in Sicht. Trumps Rundumschlag bei den Zöllen sorgt für grosse und anhaltende Ungewissheit und lähmt die Investitionstätigkeit der Unternehmen. Die Schweizer Konjunktur wird im zweiten Halbjahr deswegen an Schwung verlieren. Für das laufende Jahr ist mit einem unterdurchschnittlichen BIP-Wachstum von 1,1% zu rechnen. Im kommenden Jahr dürfte es mit prognostiziert 1% kaum höher ausfallen. Die Rückkehr zum Potenzialwachstum von gut 1,5% verzögert sich damit weiter.

Breitenwachstum ohne Wohlstandsgewinn
Bereits 2023 und 2024 ist das BIP pro Kopf leicht gesunken. Mit dem absehbaren BIP-Wachstum unter Potenzial in den Jahren 2025 und 2026 verbleibt die Schweiz in einer Phase, in der das Wirtschaftswachstum lediglich mit der Bevölkerungszunahme Schritt hält – echtes Wohlstandswachstum bleibt aus. Schon in der vergangenen Dekade war das Schweizer Wachstum stark demografiegetrieben. Das Wachstum fand in erster Linie in demografieabhängigen Branchen wie dem Gesundheitswesen, dem Sozialwesen, dem Bildungswesen oder dem Detailhandel statt, wo die wachsende Bevölkerung eine höhere Nachfrage generiert. Die Folge: mehr Menschen, mehr Jobs – aber nicht automatisch mehr Wohlstand.

Nimmt man die Beschäftigung als Mass für das Wachstum in den einzelnen Branchen, dann entfielen zwischen 2012 und 2022 76% des Wachstums auf demografiegetriebene Branchen. Der sogenannte autonome Sektor – also Branchen, die sich unabhängig vom Bevölkerungswachstum entwickeln – legte hingegen nur um 24% zu. Zu diesen zählen die Industriebranchen und die wissensintensiven Dienstleistungsbranchen wie IT oder Forschung und Entwicklung. Dieser Unterschied ist entscheidend. Autonomes Wachstum steht für Wertschöpfung durch Spezialisierung, Innovation und überregionale Nachfrage. Es ist wettbewerbsfähig und nachhaltig – das Fundament einer starken Volkswirtschaft. Demografiegetriebenes Wachstum ist hingegen notwendig, um die steigende Bevölkerung zu versorgen, schafft aber selten zusätzlichen Wohlstand pro Kopf.

Auf der Spur des produktiven Wachstums
Eine Analyse aus Branchen- wie auch aus regionaler Perspektive kann helfen, die strukturellen Faktoren zu identifizieren, die für das Wachstum der autonomen Branchen verantwortlich sind. Denn die Beschäftigungsentwicklung in den autonomen Branchen verlief von Arbeitsmarktregion zu Arbeitsmarktregion sehr unterschiedlich. Während viele Regionen stagnieren, entwickeln sich andere in entgegengesetzte Richtungen. Die einen wachsen weiterhin in der Industrie, dem wissensintensiven Dienstleistungssektor oder im Tourismus, andere bauen dagegen deutlich ab.

Zürich, West- und Zentralschweiz sind die Motoren
Die Analyse zeigt, dass es echte Erfolgsgeschichten gibt. Die Westschweiz überrascht als eigentlicher Wachstumsmotor. Regionen wie Nyon, Rolle–Saint-Prex oder Renens–Ecublens trotzen der Deindustrialisierung mit beachtlichem autonomem Wachstum – oft durch kluge Verbindungen von Spitzenindustrie und wissensbasierten Dienstleistungen. Zürich wiederum brilliert als IT-Zentrum der Schweiz. Zwischen 2012 und 2022 war die Region allein für über 40% des gesamten autonomen Wachstums im Land verantwortlich. Dank einem Ökosystem aus Grossunternehmen, Startups und exzellenten Hochschulen ist Zürich inzwischen einer der wichtigsten IT-Hubs Europas. Flächendeckend gut schneidet auch die Zentralschweiz ab.

Und dann gibt es noch Visp im Wallis: Getragen von Unternehmen wie Lonza ist es die Region mit dem stärksten autonomen Wachstum überhaupt. Sie zeigt, dass auch ausserhalb der urbanen Zentren Spitzenleistungen möglich sind – wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Interessant sind aber auch weniger bekannte Erfolge wie beispielsweise in der Region Mendrisio, die eigentlich für ihre Goldraffinerien bekannt ist. In den letzten Jahren gab es dort jedoch ein starkes IT-Wachstum, was unter anderem mit der Grenznähe und dem hohen Anteil an Grenzgängern zusammenhängen könnte.

Wenn Rückschritt Realität wird
Doch nicht alle Regionen haben Grund zum Feiern. Die Analyse identifiziert auch «Absteiger» – Regionen mit traditionell hohem Industrieanteil, die vom Strukturwandel überrollt werden. Beispiele sind Moutier oder Le Chenit im Jurabogen, aber auch Frutigen im Berner Oberland. Dort schrumpfen Industrie und Landwirtschaft, und Alternativen fehlen. In der Kategorie der «Supportregionen» finden sich Wohnregionen rund um die Zentren, die wirtschaftlich stark von anderen abhängen. Auch Bern gehört dazu. Hier wächst die Bevölkerung, aber die Wertschöpfung bleibt schwach.

Was tun?
Die Lehren aus der Studie sind klar – und unbequem: Die Schweiz braucht wieder mehr Tiefe. Die Politik muss gezielt Rahmenbedingungen schaffen, die Innovation fördern, KMUs stärken und Regionen helfen, ihr Potenzial zu entfalten. Die Erfolgsbeispiele zeigen, dass es geht. Wirtschaftspolitik muss heute differenzierter denken: Nicht überall ist Hightech die Lösung. Manche Regionen brauchen Tourismus, andere Bildung, wieder andere industrielle Nischen. Wichtig ist ein starker, innovativer Kern, flankiert von einem soliden, demografiegetragenen Sockel. Unsere Studie bietet Ansatzpunkte für weitere, vertiefende Analysen.

Die aktuelle Entwicklung – mehr Menschen, mehr Jobs, aber stagnierender Wohlstand – ist kein Naturgesetz. Sie ist Ergebnis politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen. Die Schweiz steht am Scheideweg: Will sie sich mit flachem Wachstum zufriedengeben oder die Voraussetzungen für echten Fortschritt schaffen? (Raiffeisen/mc)

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