Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Wert(ab)schöpfung 3.0 und 4.0

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Wert(ab)schöpfung 3.0 und 4.0
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Sie kennen meine Kolumne mittlerweile und wissen, dass ich gern einmal ein wenig dick auftrage, damit die Botschaft ankommt. Das ist auch heute der Fall, wobei ich aber der Überzeugung bin, dass die Wahrheit nicht so fern von dem liegt, was ich hier niederschreibe. Reden wir also über Wertschöpfung!

von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

Wertschöpfung ist zunächst mal eine äusserst kreative Wortschöpfung. Per Definition ist sie die Summe erbrachter Leistungen in einem Unternehmen oder einer Volkswirtschaft bewertet zu Preisen – jeweils abzüglich ebenso bewerteter Vorleistungen. Man kann grob sagen, dass die erzielten Einkommen eine gute Näherung dafür sind, die Akademie der Volkswirtschaft möge mir diese starke Vereinfachung bitte nachsehen.

Eine hohe Wertschöpfung bzw. Wertschöpfungsintensität wird gemeinhin als Wettbewerbsvorteil erachtet, steht sie doch mitunter auch für eine hohe Produktivität. Auch Jäger und Sammler erzielten schon eine Wertschöpfung, doch meist wurde diese selbst konsumiert, diente also der Befriedigung existenzieller Bedürfnisse. Erst als die Menschen begannen, sesshaft zu werden, und der Handel, sozusagen als Schmieröl, Einzug nahm, näherte sich deren wirtschaftliche Leistung dem heutigen Begriff der Schöpfung von Werten, weil die auch anderen zur Verfügung gestellt werden konnten.

Drehen wir nun das Rad der Zeit nach vorn und beginnen mit der – nennen wir sie – Wertschöpfung 1.0 in der Historie. Für diese Wertschöpfung war fast ausschliesslich die Landwirtschaft zuständig, so wie es heute noch in ganz wenigen reinen Agrarstaaten der Fall ist. Es folgte die industrielle Revolution und das verarbeitende Gewerbe sorgt seitdem für die Wertschöpfung 2.0. Einige Dekaden später gewannen Dienstleistungen immer mehr an Bedeutung, nennen wir deren wirtschaftliche Leistung die Wertschöpfung 3.0. Bekanntlich fand in all den Jahren auch ein Wandel statt. Der Agrarsektor verlor sukzessive Wertschöpfungsanteile an das verarbeitende Gewerbe, das mit den Jahren wiederum mehr und mehr Anteile an die Dienstleistungsbranchen abgab. Und nun befinden wir uns also im digitalen Zeitalter oder in der Informationsgesellschaft, welche die Wertschöpfung 4.0 generiert.

Selbstverständlich will ich der Informationsgesellschaft nicht jegliche Wertschöpfung absprechen, genauso wenig wie der Dienstleistungsgesellschaft, der Begriff der Wertschöpfung wird aber von beiden zumindest etwas ad absurdum geführt. Natürlich hat in der Wirtschaft alles seinen Wert, wenn dafür eine Zahlungsbereitschaft vorhanden ist, aber es gibt schon Nuancen. Persönliche Dienstleistungen, wie etwa von Friseursalons, erbringen wenigstens eine Leistung, die sichtbar ist. Beim Fitnesstrainer oder Ernährungsberater hingegen ist das Ergebnis nicht immer sichtbar. Wer Speck ansetzt und diese Berufsgattungen einspannt, um Muskeln aufzubauen oder die Pfunde purzeln zu lassen, kann durchaus Erfolge erzielen; aber Hand aufs Herz, wissen wir nicht schon länger, wie das geht, erst recht in der Informationsgesellschaft, wo ja eigentlich alles im Netz abrufbereit ist? Früher gab es FDH – für «Friss die Hälfte» – oder Kalorientabellen, die am Kühlschrank hefteten und auch da gab es übergewichtige Menschen. Doch heute «verfettet» unsere moderne Gesellschaft zusehends, all dem Wissen und den omnipräsenten Beratern zum Trotz. Dank Lifestyleboom stellt selbst das verarbeitende Gewerbe Dinge her, die wir im Grunde nicht brauchen, denn nun kommen die Werbebranche und das Marketing ins Spiel, welche uns zu manipulieren versuchen. Sie suggerieren uns, eine Wertschöpfung zu erzielen, wenn wir ihren Ratschlägen folgen, und dass wir davon vermeintlich profitieren; tatsächlich schöpfen sie aber lediglich Teile unserer Wertschöpfung ab.

In der Ära von Wertschöpfung 3.0 und 4.0 ist das besonders augenscheinlich. Früher war ein Auto ein Fortbewegungsmittel, heute ist es vermeintlich viel mehr. Der vermaledeite Begriff des Lebensgefühls macht es möglich. Es gibt heute Automobile mit Charakter (Chrysler), Autos, die anders, überraschend und überzeugend sind (Daihatsu), oder Innovation in Bewegung (Mitsubishi), und Technik, die begeistert, so dass die Zukunft allen gehört (Opel). Und man kann auch in schönster Form fahren (Porsche).

Es gibt ferner Banken für Fortgeschrittene (Advance Bank) oder für Menschen, die nicht mehr brauchen, die Bank 24 (mehr braucht kein Mensch). In einer Bank lebt das Geld sogar (where money lives, Citibank) und eine Bank ist stets an Ihrer Seite (Commerzbank) oder Sie als Kunde der Direkt Anlage Bank sind gleich selbst die Bank (die Bank sind Sie). Hören oder schauen Sie sich mal die Slogans an, die Versprechungen sind epochal, ja weltbewegend. Abschliessend sei noch erwähnt, «einen Neff zu haben», bedeutet «ein Stück zuhause». Wer kocht? Der Neff (Neff).

Die Werbebranche zahlt gut, auch im Marketing kommt man auf fast unanständige Löhne, die Branchen sind also äusserst wertschöpfungsintensiv. Dabei schaffen sie eigentlich keine Werte, sondern schaffen es, dass wir Teile unserer Werte preisgeben, in der Hoffnung, das Versprechen werde eingelöst. Auch im Banking, in der Pharma- oder der Energiebranche wird überdurchschnittlich verdient, aber nicht etwa, weil die Leute da so gut sind und so viel Mehrwert schaffen. Dort sind oft hohe Eintrittsbarrieren der Garant für eine hohe Pro-Kopf-Wertschöpfung. Je regulierter die Branche, desto abgeschotteter ist sie. So lassen sich Renten erzielen, die – würde der Wettbewerb voll spielen – kaum möglich wären.

Im Technologiesektor ist das ähnlich. Dort sind es wenige – immerhin First Mover –, welche bombastische Margen erzielen, aber auch da fehlt es an Wettbewerb. Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass Wertschöpfung heute anders definiert werden müsste. Für was gezahlt wird, das hat auch einen Wert, ist zwar korrekt, aber hat es nicht nur einen (übertriebenen) Wert, weil uns das suggeriert wird? Macht das Prada-Täschchen tatsächlich glücklich? Oder andere Luxusgüter, von denen wir im Grunde wissen, dass sie keinen höheren ökonomischen Nutzen stiften? Wahrscheinlich für einen Moment, wenn überhaupt, doch darum geht es nicht. Der Konsum höherpreisiger Güter (gelinde ausgedrückt!) steigert unser Selbstwertgefühl, vor allem, weil wir es uns leisten können und andere nicht. Fatal ist nur, dass wir das im Informationszeitalter mit anderen jederzeit und überall teilen können.

Likes und Follower sind dabei oft die Währung, mit der Wertabschöpfung generiert wird. Die Individualisierung im weltweiten Netz ist im Grunde ein Massenprodukt, was ein Paradoxon ist. In der klassischen Industriegesellschaft wussten wir noch, was wir brauchten, und kauften es uns, wenn das Geld dafür reichte. Heute lassen wir uns sagen, was wir wollen, obwohl wir es nicht brauchen, und kaufen es dann, nicht selten auch, wenn das Geld dafür nicht reicht. Wegschmeissen kann man es immer noch. Lifestyle ist der Inbegriff des Überflusses und mitverantwortlich dafür, dass uns der Müll bis an den Hals reicht. Perfekte Wertabschöpfung eben. (Raiffeisen/mc)

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