Meret Schneider – Selfcare und die Simplizität des Zynismus

Meret Schneider – Selfcare und die Simplizität des Zynismus
Meret Schneider, Nationalrätin von 2019 bis 2023, Grüne Schweiz. (Bild: parlament.ch)

“Cura et labora”, dachte ich, als ich zwischen zwei Meetings durch den Orell Füssli schlenderte und durch die Neuerscheinungen blätterte, die sich da in der Auslage tummelten. “Curare”, lateinisch für sorgen/pflegen, also “pflege und arbeite”, scheint das frühere “ora et labora” ersetzt zu haben. “Selbstfürsorge” oder auf Instagram #Selfcare haben Hochkonjunktur und die Ausprägungen reichen von Klassikern wie Kerze, Badewanne und Buch oder einem Spabesuch bis zum elaborierteren “niksen”, dem niederländischen Wort für Nichtstun.

Und weil wir uns von den skandinavischen Ländern bereits Lagom (schwedisch für einen ausbalancierten Lebensstil) und Hygge (eine Art allumfassender Gemütlichkeit mit obligaten Karodecken, XL-Tassen und heisser Schokolade) einverleibt haben, annektiert die Lifestyle-Industrie nun auch das niksen, dem sich gleich mehrere Ratgeber widmen und das uns entspannter, sozialverträglicher und nicht zuletzt produktiver machen soll. Andere Varianten der proklamierten Selbstfürsorge preisen die frühen Morgenstunden für einen selbst aufgebrühten Oolong-Tee, eine kurze Meditation oder eine Joggingrunde und raten, für mehr Energie einfach früher aufzustehen (ein Prinzip, das sich mir nie erschliessen wird).

Sämtliche dieser Bücher richten sich an den notorisch überlasteten, weil von Terminstress und Informationsflut geplagten Menschen der Moderne und viele der Tipps oder auf Instagram #Lifehacks lassen sich unter dem inflationär verwendeten Wort Selfcare subsumieren. Sei produktiv, sei leistungsfähig, aber sorge dabei auch gut für dich, um in Zeiten von Homeoffice, Kinderbetreuung und Weiterbildungsimperativ entspannt und ausbalanciert zu bleiben – und diese Leistung natürlich auch bis zum in immer weitere Ferne rückenden Rentenalter aufrechterhalten zu können.

Der Begriff “Selfcare” ist interessanterweise aber keine Schöpfung aufdringlich entspannter Highperformer*innen, sondern entstammt den 1960er Jahren in den USA, als es noch viele Krankenhäuser gab, die Schwarze gar nicht oder nur getrennt von Weissen behandelten. Es entstanden in der Folge eine Reihe freier Behandlungszentren, die von der Black Panther Bewegung gegründet wurden und den Begriff “Selfcare” als politische Aussage dieser Initiative etablierten. “Wenn wir von euch nicht behandelt werden, helfen wir uns selbst”, lautete das kämpferische Statement. Es ging also darum, für sich zu sorgen und sich darum zu kümmern, physisch und psychisch intakt zu bleiben in einem System, das einem dieses Grundbedürfnis verweigert, es war ein Akt des Überlebens also.

Nachdenkend über das Erscheinen dieser Selbstfürsorge-Bücher schien mir die Parallele zum historischen Selfcare-Begriff geradezu offensichtlich: auch der moderne Selfcare-Begriff reklamiert das Recht auf physische und psychische Unversehrtheit für sich. In einem System, das auf unsere Grundbedürfnisse nach Ruhe, Auszeit, Innehalten keine Rücksicht nimmt und mit zunehmendem Leistungsdruck, engerer Taktung und fliessender Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit immer stärker auch unser Privatleben auf Performance trimmt, scheint die politische Forderung nach “für sich selbst sorgen” aktueller und angemessener denn je. Oft genug befinde ich mich selber in einem Strudel aus Onlinecalls, Sitzungen, Bürotagen und Bergen an Dossiers, die bearbeitet werden wollen und tauche erst Abends leicht benommen aus der Arbeitsflut auf, um mich zu fragen, wo die Woche schon wieder geblieben ist. Sollte ich mich vielleicht, statt süffisant über online zelebrierte Teerituale und Spabesuche zu lächeln, tatsächlich einmal fragen, wie es um meine eigene Selbstfürsorge steht? Unbequem zwar, aber vielleicht notwendig und so nehme ich mir vor, mich dem Thema neu, ohne den einfachen Weg des keinen Widerstand bietenden Zynismus zu wählen, unvoreingenommen zu widmen. Auszeiten und Innehalten sind ja grundsätzlich nicht verkehrt und es muss auch nicht das teure Wellness mit Produktplatzierung, das Gipfeli im Bett (Brösmeli!) oder irgendein fernöstliches Ritual unter skandinavischem Oberbegriff sein. Vielleicht reicht es, einfach ein bisschen ziellos durch den Orell Füssli zu schlendern.


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