Meret Schneider: Ein ehrlicher Blick auf Selbstausbeutung

Meret Schneider: Ein ehrlicher Blick auf Selbstausbeutung
Meret Schneider, Nationalrätin, Grüne Schweiz. (Bild: parlament.ch)

Ich las einen Text in der Zeitung Republik von Anna Rosenwasser mit dem Titel “Die Romantisierung der Selbstausbeutung”. Und ich kann nur allen empfehlen, es mir gleich zu tun, nicht nur, weil ich in Anna Rosenwasser eine Freundin und Verbündete im konventionsbestimmten, etikettebewussten Parlament gefunden habe, sondern weil ich den Text fantastisch finde und er noch lange in mir nachklingt.

Sie beschreibt darin, dass sie sich, aller Leistungserwartungen und Work hard – play hard- Paradigmen zum Trotz zwei Tage die Woche komplett frei nimmt und dank ihres Privathandys auch weder für Medienschaffende noch für Pushmeldungen zu erreichen ist. Sie schreibt von ihrer inneren Gewerkschaft, die das mit Vehemenz einfordert, und dies nicht, um an den anderen Tagen umso produktiver zu sein oder an den zwei Tagen den Körper, den Garten oder das Sozialleben auf Hochglanz zu polieren. Einfach für sich, um nicht auszubrennen, um den politischen und gesellschaftlichen Aufgaben mit der Energie und Aufmerksamkeit entgegentreten zu können, die sie verdienen. Das Wort Selbstliebe oder Selbstfürsorge kommt im Text zwar nicht vor, aber vermutlich ist es das, die inflationär benutzte Selbstliebe.

Hier ein kurzer Einschub für Freunde der bewussten Missverständnisse und der Shitstorms: Wir sind uns beide bewusst, dass es ein Luxus ist, sich das herausnehmen zu können und nicht in Arbeitsverhältnissen zu stehen, in denen zwei Tage frei inkl. Nichterreichbarkeit pro Woche schlicht ein Hohn sind. Ja, wir sind privilegiert, ja wir sind uns dessen bewusst und unsere Politik richtet sich ja genau danach, gegen diese Ungerechtigkeiten anzuarbeiten. Und wer jetzt noch einen Shitstorm lostreten möchte, dem sei es von Herzen gegönnt.

Ich las also diesen Text und meine erste Reaktion war ein leicht theatralisches innerliches Seufzen: Das könnte ich mir ja niiiie leisten. ZWEI Tage FREI und dann nicht erreichbar sein, wie SCHÖN, dass sie sich das GÖNNT.

Ich bin 24/7 erreichbar. Wenn ich nicht erreichbar bin, dann deswegen, weil ich gerade in einer für mich wichtigeren Tätigkeit feststecke. Ich checke jeden Tag Mails, auch in den Ferien. Wer mir eine Aufgabe zuschiebt, kriegt selten ein Nein, maximal ein “später”. Während der Sessionen arbeite ich am Wochenende für meinen Nicht-Politjob im Angestelltenverhältnis, obwohl dies nicht erwartet wird. Und während ich das denke, regt sich nicht meine innere Gewerkschaft (hallo, Gewerkschaft, jemand zu Hause?), sondern mein innerer Friedrich Merz und interessanterweise spricht er mit der Stimme von Thierry Burkart, wenn er mir zuprostet und gönnerhaft meinen Leistungsethos lobt, nicht wie die Gen Z eben. Und statt mich zu fragen, ob Herr Merz und Thierry Burkart jetzt wirklich die Personen sind, deren Lob mich innerlich bestärken sollte, nehme ich es gern entgegen und verzichte darauf, den Seitenhieb auf die Gen Z zu kontern.

Tatsächlich verhalte ich mich privat im Bereich Leistung und Wertschätzung genau nach den Regeln, die ich politisch bekämpfe – ja, Sozialisierung, ich weiss, ich weiss. Und ich bin nicht die einzige – besonders im NGO- und Politikbetrieb ist dies eigentlich das Normverhalten. Von rechts gern begleitet mit den entsprechenden Zusätzen, wie viel Prozent man arbeite (mind. 120%) und wie wenig man schlafe (max. 5 Stunden), von links mit den Phrasen, das bringe der Parlamentsjob halt mit sich und man setze sich ja auch für seine Herzensthemen ein – alles richtig, alles in Ordnung.

Meine erste Reaktion jedoch, man könne sich das einfach nicht leisten, war aber eine Selbstlüge. Klar bin ich in einem Angestelltenverhältnis in einer etwas anderen Position als Anna Rosenwasser, die selbstständig ist. Und klar bin ich etwas mehr auf mediale Präsenz angewiesen mit meiner Hand voll Followern auf Instagram – das öffentliche “Stattfinden-müssen” ist leider noch immer ein Imperativ, der das politische Geschehen prägt. Aber ein bisschen mehr könnte ich mir leisten – ich will es offenbar nicht. Denn, und so ehrlich muss man sein, mit einem Tag Auszeit gehen Opportunitätskosten einher. Ruft die Arena an diesem Tag an, hat man einen wichtigen Auftritt verpasst. Reagiert man nicht auf eine geschäftliche Mail, muss man mit der Unsicherheit umgehen, dass auf der Gegenseite eventuell Irritation entsteht.

Und es gibt doch nichts Süsseres in den Ohren eines inneren Friedrich Merzes im FDP-Anzug als der Satz: “Oh, ich hätte gar nicht mit einer so schnellen Reaktion gerechnet – vor allem nicht am Sonntag.” Pause machen heisst, Opportunitätskosten zu akzeptieren. Auftritte verpassen, Gegenreaktionen oder gar Ablehnung zu ertragen und auf das Lob der Immerpräsenten zu verzichten. Es ist vermutlich anstrengender, als einfach weiter zu leisten, aber ich nehme mir das fest vor. Wenn ich das schreibe, erscheint es mir wie die Binsenweisheit, die es ja auch ist. Aber gleichzeitig sehe ich im Parlament und unserer Gesellschaft noch immer sehr viel mehr innere Friederich Merze als Gewerkschaften, die den Tarif durchgeben. Wem das entspricht – wunderbar. Aber wer mit einem ehrlichen Blick eigentlich auch ein bisschen damit hadert, dem sei der Text von Anna Rosenwasser empfohlen. Man muss ja nicht All-In gehen – ein Tag frei und nicht alle zwei Stunden Mails sind schon ein guter Anfang. Ein bisschen lieb haben wir unsere Friedrichs und Thierrys ja auch gewonnen.


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