Nach Corona müssen wir wieder lernen, Essentielles von Wünschbarem zu unterscheiden

Nach Corona müssen wir wieder lernen, Essentielles von Wünschbarem zu unterscheiden
Dr. Fritz Kälin

Vor einem Jahr war ich in Bundesbern beruflich für die Themen der Kommissionen für Gesundheit und für Sicherheitspolitik zuständig. Aber nicht nur politisch erlebte ich die Coronakrise aus nächster Nähe. Im März rückte ich just in der Woche für meinen regulären WK ein, als der Bundesrat die grösste Mobilmachung seit dem Zweiten Weltkrieg veranlasste. Mit bis zu 8’000 Soldatinnen und Soldaten sollten die Spitzenbelastungen im Gesundheitswesen und beim Grenzwachtkorps gebrochen werden.

Von Dr. Fritz Kälin

6’000 Armee- und 24’000 Zivilschutzangehörige leisteten zwischen März und Juni 2020 zusammen gegen 620’000 Diensttage. 90% der aufgebotenen Armeeangehörigen waren (rechtzeitig) eingerückt. 1’500 meldeten sich als Freiwillige. Viel mehr, als verwendet werden konnten. 4’000 Angehörige des Zivildienstes leisteten während dieser kritischen Monate ihren regulären Dienst in den Bereichen Gesundheit und Soziales. Bis Dezember 2020 wurden weitere 16’000 Zivildienstleistende angeschrieben, aber nur 550 effektiv eingesetzt. Es gab sogar Zivildienstangehörige, die anfragten, ob sie wieder in der Armee zur Krisenbewältigung beitragen könnten.

Die mit der Armee XXI leichtsinnig abgeschaffte Mobilmachung konnte mit der jüngsten WEA-Reform gerade rechtzeitig wiederaufgebaut werden. Und die Smartphone-Generation in Uniform hat gezeigt, dass ihr Pflichtgefühl gegenüber der Allgemeinheit dem ihrer Vorväter in Nichts nachsteht. Ausserdem verzichtet diese Generation seit einem Jahr auf viele der Freuden, die sich nur in der Jugend erleben lassen. Dass die Ansteckungszahlen im Winter trotzdem so hoch waren, dass erstmals das WEF nicht in der Schweiz durchgeführt wird, kann nicht den pflichtbewussten Jungen angelastet werden.

Gesundheitsvorsorge – Mehr als genug Spitäler, dafür zu wenig Schutzmasken auf Lager
Die Spitäler konnten vor einer Überlastung bewahrt werden – wobei ich lieber sage: Das Gesundheitspersonal konnte vor einer Überlastung bewahrt werden. Denn die Schweiz hat über 200 Spitäler. Gemäss Fachleuten würden 50 am richtigen Ort ausreichen. Diese überzähligen Infrastrukturen verschärfen den strukturellen Personalmangel in der Pflege empfindlich. Politisch wird derzeit darüber diskutiert, wie mehr Anreize zum Ergreifen und Verbleib im Pflegeberuf geschaffen werden können. Eine notwendige Diskussion, die aber die strukturellen Ineffizienzen weiter ausblendet.

Nun kann man sich fragen, ob 50 Spitäler auch in einem Pandemiefall reichen würden. Nur: Bis in die 1990er-Jahre konnte die Schweiz für eine noch wesentlich geringere Gesamtbevölkerung ihre zivilen Gesundheitseinrichtungen mit gegen 40 Militärspitälern verstärken. In Andermatt bot das Militärspital bis 2016 der Bevölkerung einen Teil der medizinischen Notversorgung kostenlos an. Heute ist noch ein letztes Militärspital übrig. Es liegt in Einsiedeln, 5 Fahrminuten von einem der drei Kantonsspitäler entfernt. Wann diskutieren wir in der Schweiz wieder ganzheitlich, welches der kosteneffizienteste Mix aus zivilen Spitälern und in Krisenlagen aktivierbaren Reservekapazitäten bei Armee und Zivilschutz sein könnte? Ich wage zu raten, dass es weniger als 200 und mehr als 50 zivile Spitäler, und weniger als 40, dafür mehr als ein einziges Militärspital sein könnten. Wir müssen Gesundheitsvorsorge wieder als festen Bestandteil unserer umfassenden Krisenvorsorge begreifen.

Auch bei den teuren Beatmungsgeräten blieb der befürchtete Engpass glücklicherweise aus. Erfolgte Panikkäufe seien hier nicht nachträglich kritisiert. Engpässe stellten sich hingegen bei zwei profanen Verbrauchsmaterialien ein: Desinfektionsmittel und Schutzmasken. Ja, die reiche Schweiz hatte genug teure Spitäler, Beatmungsgeräte und gut ausgebildetes Personal. Was sie sich nicht (mehr) geleistet hatte, waren Ethanol-Notreserven (erst 2018 war Alcosuisse aufgelöst worden) für die Herstellung von Desinfektionsmittel, und vorschriftsgemäss gefüllte Vorratslager an Schutzmasken. Und das bei jährlichen landesweiten Ausgaben für Gesundheit von über 80 Milliarden – Tendenz weiter steigend.

Wenn das Wünschbare auf Kosten des Essentiellen finanziert wird
Wie viele Mehrerkrankungen wir mangels Schutzmasken und Desinfektionsmittel erlitten, und welche volkswirtschaftlichen Kosten entstanden, weil mangels Notvorräten ein drastischer Lockdown verordnet werden mussten, lässt sich nur dunkel erahnen. Wofür wurde wohl das Geld verwendet, dass durch unzureichende Lagerbestände und die Auflösung der Ethanol Lager «gespart» wurde? Würden wir bei der Armee wie im Gesundheitswesen wirtschaften, also Geld für Wünschbares statt zuerst für Essentielles ausgeben, sähe es so aus: Die Armee hätte viel zu vielen Kasernen, aber nur Verbandsmaterial und Munition für etwa eine Woche Kampfhandlungen. Es wird höchste Zeit, dass wir hierzulande die Überrüstung unseres Gesundheitswesens politisch in Frage stellen, statt essentielle Investitionen in unsere Krisenvorsorge (z.B. Kampfjets) auf Vorrat einem Referendum zu unterstellen. 

Wer im Jahr 2021 «Corona» als «die Jahrhundertherausforderung» bezeichnet, suggeriert leichtfertig, dass dies das Schlimmste ist, was bis zum Jahr 2099 passieren könnte. Diese Pandemie sollte für uns in der Schweiz ein Weckruf in mehrfacher Hinsicht sein. Die Jugend zeigt in der Stunde der Not viel mehr Gemeinsinn, als man es ihr im Alltag unserer Spass- und Leistungsgesellschaft zutraut. Es liegt in der Verantwortung ihrer Elterngeneration, dass in unserem reichen Land das Essentielle nicht für selbstverständlich gehalten wird.


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