Robert Jakobs Wirtschaftslupe: Wo der Einzelne nichts wert ist

Von Robert Jakob
Schiere Grösse macht nicht glücklich: Gemeint ist nicht das Gardemass eines Basketballspielers, sondern die Bevölkerungszahl eines Landes. Ein kleiner Überblick über die Lage unserer grossen Nationen.
Beginnen wir mit dem Reich der Mitte. Die altehrwürdige Kulturnation war bis vor Kurzem noch das Land der Erde mit den meisten Einwohnern. China hatte jeher grosse Mühe, seine riesige Bevölkerung zu ernähren. Unter Mao Zedongs kommunistischem Regime wurde mit eiserner Hand geführt. Der grosse Vorsitzende hatte mit der Planung des «Grossen Sprungs nach vorn» Ende der 50er-Jahre die Modernisierung der Industrie auf Kosten der Versorgung der Bevölkerung durchpeitschen wollen. Da China ein gebirgiges Land mit wenig Anbaufläche ist, verhungerten in den Jahren 1958 bis 1962 geschätzt zwischen 20 bis 45 Millionen Menschen. Es war die grösste Hungersnot in der Geschichte der Menschheit.
Erschreckende Parallelen in der Fehlplanung durch rigide Planwirtschaft lassen sich im Leninismus/Stalinismus aufzeigen. Auch der spitzbärtige Bolschewik Vladimir Ilyich Ulyanow (kurz Lenin) hatte der Schwerindustrie Vorrang vor der schnöden Landwirtschaft eingeräumt. Am meisten unter seiner Fehlplanung mussten die weit weg von Moskau liegenden Agrarregionen darben. In der Ukraine und in Kasachstan sind 1931-1932 jeweils Millionen Menschen elend verhungert, weil der Getreidebeschaffungsplan seines Nachfolgers Stalins ihnen das Essen raubte. Die Nahrungsmittel wurden in die Städte verbracht oder irgendwo zu Geld gemacht, statt den Hunger der Produzentenfamilien zu stillen. Die Not wurde ausgenutzt, um die bereits im vorherigen Jahrzehnt begonnene Zwangskollektivierung der Landwirtschaft durchzupauken (Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden sowie Konzentration der verbleibenden Bauernschaft in Kolchosen unter Kontrolle der Partei). Bolschewistische Brigaden durchkämmten Bauernhöfe nach versteckten Lebensmitteln. Als Folge von Strafabgaben verloren viele Bauernfamilien ihren gesamten Besitz und endeten, um Essen bettelnd, in den überfüllten Städten. In der Bevölkerung kam es nachweisbar zu Kannibalismus statt Kapitalismus.
Wichtig war im System nicht der Mensch, sondern das grosse Ganze – mit anderen Worten der grosse Vorsitzende und die ihm dienenden Parteiapparate. Während China die Fehler des «Grossen Sprungs» anerkannte, tut sich Russland als Nachfolger der Sowjetunion schwer, die Verbrechen Stalins zuzugeben. Damit signalisiert das Regime klar, dass Wahrheit und freie Meinungsäusserung unerwünscht sind und der Nachfolger des Sowjetmenschen als Individuum hinter der Volksmasse und dem Diktat von oben zu versinken hat.
Wie weit die Selbstverknechtung führen kann, sieht man in Nordkorea. Geradewegs grotesk mutet das von Kim Jong-un in Auftrag gegebene Propaganda-Video für ihn selbst an:
Auch hier leidet die Landbevölkerung Hunger, aber das einzelne Schicksal, sprich ein Menschenleben, hat keinen Wert. Kim könnte die Lebensbedingungen seiner Untertanen problemlos verbessern, aber er braucht das Geld für seine atomare Aufrüstung. Söldnerwesen für Russland ist für viele Nordkoreaner besser, als im eigenen Land Hunger zu leiden.
Indien hingegen ist als grösste Demokratie der Welt unter Narendra Modi auf dem besten Weg zu einem hinduistischen Nationalstaat zu werden, der seine Minderheiten, allen voran über 200 Millionen Muslime, aussen vorlässt. Wichtige Verwaltungspositionen werden selten von Nicht-Hindus besetzt. Indien ist ein Vielvölkerstaat; ein entspanntes Miteinander hat eigentlich Tradition. Doch seit Modis Partei BJP 2014 erstmals an die Macht kam, ändert sich das schleichend. Christen, Muslime und andere Minderheiten drohen zu Bürgern zweiter Klasse zu werden.
Im Einwanderungsland par Excellence, den USA, soll die Herkunft eigentlich gar keine Rolle mehr spielen. Aber in Tat und Wahrheit ist es besser, einen anglophonen Namen zu tragen, statt eines hispanischen. So haben etwa die Familienmitglieder des Estevez-Clans ihre Namen teilweise «amerikanisiert». Die berühmten Schauspieler Vater Martin und Sohn Charlie Estevez nennen sich Martin und Charlie Sheen.
In den Vereinigten Staaten von Amerika gilt der Mythos, nie einen Landsmann fallen zu lassen. Amerika pflegt Helden-Epen, in denen sich die Mannschaft für den Einzelnen aufopfert wie in Hollywood-Streifen von «Saving Private Ryan» bis «Der Marsianer – Rettet Mark Watney». Die Realität ist eine andere. Wer im Dschungel der US-Bürokratie hängen bleibt, ist so gut wie verloren. Die kennt keine Gnade, Ausnahmen werden nicht gemacht. «I Want You», das Poster mit Uncle Sam, der zur Zwangsrekrutierung in die US Army aufruft, ist ein plakatives Beispiel.
Oft gehen systematische Überwachung und individuelle Geringschätzung Hand in Hand. Hier nähern sich die Vereinigten Staaten China an. Trump und sein Gefolge wollen mehr als 55 Millionen Personen einer kontinuierlichen Überprüfung unterziehen. Wer eine Aufenthaltserlaubnis hat oder haben will, muss aufpassen, was er auf Social-Media-Konten an Spuren hinterlassen hat. Vor allem Studenten, die sich kritisch über den SOTUS geäussert haben, riskieren den Rausschmiss. Trump hat viel von den Altdiktatoren gelernt. Dazu zählt auch, dass er den Umwelt- und Gesundheitsschutz zu Tode spart. Denn die vielen Menschen interessieren ihn im Grunde genommen überhaupt nicht.