KI-Boom oder KI-Blase? Eine Trennung von Fakten und Hype
Während die Ära des künstlichen-Intelligenz-Computings weiter an Fahrt gewinnt, stellen sich zunehmend Fragen zur Höhe der Investitionen und zu den Bewertungen der beteiligten Unternehmen. Wie in jedem Investitionszyklus können Phasen des starken Wachstums von Konsolidierungsphasen begleitet sein. Die KI-Ära dürfte einem ähnlichen Muster folgen.
von Daniel Ernst, Portfolio Manager Digital Innovations bei Robeco
Der rasante Aufstieg der künstlichen Intelligenz verändert bereits ganze Bereiche der Wirtschaft. Gleichzeitig stellt sich für Anleger eine zentrale Frage: Steuert der Sektor auf eine Überhitzung zu? Jeff Bezos spricht von einer «industriellen Blase», die entsteht, wenn Innovation schneller wächst als die Fähigkeit der Märkte, tragfähige Projekte von Kapitalüberschuss zu unterscheiden. Mehr denn je kommt es darauf an, harte Daten von technologischen Erzählungen zu trennen.
Steigende Bewertungen, begleitet von Wachstum
Die Bewertungen im US-Technologiesektor liegen beim 30,4-Fachen der erwarteten Gewinne – hoch, aber noch entfernt von den Extremwerten von 1972 oder dem Jahr 2000. Das Wachstum wird weiterhin durch solide Gewinnzahlen gestützt. Für die Unternehmen im S&P 500 wird für das dritte Quartal 2025 ein Gewinnanstieg von 13,1 % gegenüber dem Vorjahr erwartet; im Technologiesektor sogar 27,1 %.
Im KI-Ökosystem meldeten die drei grössten Cloud-Computing-Plattformen – Amazon, Google und Microsoft – ein beschleunigtes Segmentwachstum von 28,5 % im Jahresvergleich, rund 300 Basispunkte mehr als im Vorquartal. Zusammen sollen diese sogenannten Hyperscaler laut Konsensschätzungen in diesem Jahr 273 Milliarden US-Dollar an Cloud-Computing-Umsätzen erzielen – nahezu eine Vervierfachung innerhalb von fünf Jahren.
Investitionen steigen sprunghaft
Die Nachfrage übersteigt inzwischen die verfügbaren Kapazitäten. Hyperscaler und neue Marktteilnehmer müssen ihre Investitionspläne massiv anpassen. Die Ausgaben für Infrastruktur dürften 2025 um 60 % auf 488,5 Milliarden Dollar steigen – 67 Milliarden mehr als noch im August prognostiziert. Für 2026 wurden die Erwartungen auf 645 Milliarden Dollar angehoben, was die Beschleunigung des Investitionszyklus bestätigt.
Wachstum zunehmend durch Schulden finanziert
Trotz solider Margen stützt sich der Ausbau der KI-Infrastruktur immer stärker auf den Anleihemarkt. In diesem Jahr wurden bereits mehr als 200 Milliarden Dollar an neuen Anleihen emittiert. Morgan Stanley geht davon aus, dass mehr als die Hälfte der bis 2028 erwarteten 2,9 Billionen Dollar an Investitionen über Kredite finanziert werden. Gleichzeitig erschweren bilanzexterne Konstrukte wie Special Purpose Vehicles (SPV) und Joint Ventures die Einschätzung der tatsächlichen Verschuldung.
Nachfragegetriebene Investitionen
Auffällig ist, dass alle drei führenden US-Cloud-Computing-Anbieter in ihren jüngsten Ergebnisgesprächen berichteten, die Kundennachfrage nach KI-Anwendungen übersteige weiterhin die vorhandenen Kapazitäten. Eine ähnliche Botschaft kam von Neo-Cloud-Anbietern wie CoreWeave und Oracle in den USA sowie von führenden Cloud-Anbietern in China. Infolgedessen stiegen – entgegen der Befürchtung einer Investitionsabkühlung – die KI-bezogenen Investitionspläne weiter an.
Die kombinierten Investitionsausgaben der US-Hyperscaler, Neo-Clouds und chinesischen Hyperscaler dürften 2025 nun um 60 % gegenüber dem Vorjahr auf 488,5 Milliarden US-Dollar steigen. Diese neue Prognose für 2025 liegt über 67 Milliarden US-Dollar höher als die Schätzungen, die Analysten noch im August veröffentlicht hatten. Auch die Erwartungen für die Investitionsausgaben im Jahr 2026 wurden deutlich nach oben revidiert – von 145 Milliarden auf 645 Milliarden US-Dollar.
Eine Dynamik, die längst über die Technologie hinausreicht
Der Einfluss der KI erfasst zunehmend die Realwirtschaft – von der Industrie über die Versorger bis zu gewerblichen Immobilien. Der Bau neuer Rechenzentren treibt die Industrie an: die Verkäufe bestimmter Ausrüstungen steigen um 55 %, einzelne Zulieferer melden mehr als 20 % Umsatzwachstum. Übertragungseffekte aus der KI- und Rechenzentrumsnachfrage haben zudem dazu beigetragen, dass die Kupferpreise in diesem Jahr um 22 % und die Erdgaspreise um 67 % gestiegen sind. Goldman Sachs schätzt, dass KI-getriebene Investitionen im ersten Halbjahr insgesamt 92 % der zusätzlichen Nachfrage in der US-Wirtschaft ausmachten.
Die grössten Spannungen zeigen sich inzwischen in anderen Segmenten: Nuklearunternehmen werden mit dem 100-Fachen der erwarteten Gewinne bewertet, Quantencomputing mit dem über 400-Fachen des Umsatzes und der europäische Verteidigungsindex mit dem 41-Fachen der Gewinne. Auch Gold und Bitcoin bewegen sich im 99. Perzentil ihrer historischen Bewertungen. (pd/mc/pg)