Wirecard-Skandal weitet sich aus – Aufsicht: «Komplettes Desaster»

Wirecard-Skandal weitet sich aus – Aufsicht: «Komplettes Desaster»
Ehemaliger Wirecard-Hauptsitz in Aschheim. (Foto: Wirecard)

Aschheim bei München – Nach dem Eingeständnis mutmasslicher Luftbuchungen in Milliardenhöhe muss der in einem Bilanzskandal verwickelte Dax-Konzern Wirecard weitere Ermittlungen fürchten. «Wir prüfen alle in Betracht kommenden Straftaten», sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft München I am Montag. Ob konkret gegen ehemalige oder amtierende Wirecard-Manager wegen Bilanzmanipulation ermittelt wird oder dies geplant ist, sagte die Sprecherin nicht: Einzelheiten zum Vorgehen würden nicht genannt.

Bei der Behörde läuft bereits ein Ermittlungsverfahren gegen den am Freitag zurückgetretenen ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Markus Braun und drei weitere Manager der Wirecard-Spitze wegen des Verdachts der Falschinformation von Anlegern in zwei Börsen-Pflichtmitteilungen.

Viele Akteure – viele Ungewissheiten
Im Zentrum des Bilanzskandals stehen der ehemalige Wirecard-Finanzchef in Südostasien und ein Treuhänder, der bis Ende 2019 für Wirecard aktiv war und das – wie sich nun herausgestellt hat – in grossen Teilen wahrscheinlich gar nicht existente – Geschäft mit den Drittpartnern betreute.

Ungeklärt ist, ob es Mitwisser beziehungsweise Mittäter in der Firmenzentrale im Münchner Vorort Aschheim gab. Insbesondere ist ungeklärt, ob und inwieweit Braun oder andere Mitglieder des Vorstands über die Lage im Bilde oder möglicherweise sogar beteiligt waren. Das Unternehmen sieht sich als Opfer.

«Komplettes Desaster»
Der Chef der Finanzaufsicht Bafin sprach von einem «kompletten Desaster» und gab sich selbstkritisch: «Wir sind nicht effektiv genug gewesen, um zu verhindern, dass so etwas passiert», räumte Behördenpräsident Felix Hufeld bei einer Bankenkonferenz in Frankfurt ein. «Wir befinden uns mitten in der entsetzlichsten Situation, in der ich jemals einen Dax-Konzern gesehen habe.» Wichtig sei nun rasche Aufklärung.

«Eine Bankrotterklärung»
Kritik und Fragen, wie die mutmasslichen Manipulationen unentdeckt bleiben konnten, gibt es sowohl an die Adresse der Bafin als auch an die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die die Jahresabschlüsse 2017 und 2018 geprüft und testiert hatte. «Der Fall Wirecard ist eine Katastrophe für den Finanzplatz Deutschland und eine Bankrotterklärung der beteiligten Wirtschaftsprüfer und Aufsichtsbehörden», sagte FDP-Finanzexperte Florian Toncar.

«Gründliche Prüfungen hätten einen solchen Schaden sicherlich früher aufdecken müssen», meinte der Grünen-Finanzpolitiker Danyal Bayaz. Und die Linke fordert die Einführung eines Unternehmensstrafrechts, wie Fraktionsvize Fabio de Masi sagte. Dies würde bedeuten, dass künftig nicht mehr nur Manager wegen Straftaten angeklagt werden könnten, sondern ganze Unternehmen.

Eine Berliner Anwaltskanzlei hatte bereits im Mai eine Klage gegen EY vor dem Landgericht Stuttgart angedroht. Das Gericht reagierte am Montag zunächst nicht auf die Frage, ob diese Klage tatsächlich eingereicht wurde.

1,9 Mrd auf Treuhandkonten in Asien exisiteren nicht
Wirecard hatte zuvor mitgeteilt, dass 1,9 Milliarden Euro, die das Unternehmen auf Treuhänderkonten verbucht hatte, «mit überwiegender Wahrscheinlichkeit» nicht existieren. Deswegen prüft der Konzern die nachträgliche Korrektur seiner Bilanzen: «Mögliche Auswirkungen auf die Jahresabschlüsse vorangegangener Geschäftsjahre können nicht ausgeschlossen werden.»

Aktie stürzt ab
An der Frankfurter Börse stürzte die Wirecard-Aktie ein weiteres Mal in die Tiefe, die Papiere verloren erneut gut 40 Prozent und sackten bis zum frühen Nachmittag auf knapp 15 Euro. Damit war Wirecard weniger als zwei Milliarden Euro wert – seit dem Höchststand der Aktie im September 2018 summieren sich die Kursverluste der Anleger auf über 20 Milliarden Euro. Allein seit dem vergangenen Mittwoch haben die Papiere über zehn Milliarden an Wert verloren.

Seit einem Jahr in den Schlagzeilen
Über mögliche Bilanzmanipulationen bei Wirecard hatte schon vor über einem Jahr die britische «Financial Times» berichtet. Im Oktober hatte die «FT» dann berichtet, dass ein beträchtlicher Teil der Wirecard-Umsätze mit Drittfirmen in Asien womöglich auf Scheingeschäften beruhe.

Der am Freitag zurückgetretene Wirecard-Chef Markus Braun hatte die Berichterstattung der «FT» über Monate als haltlos zurückgewiesen. Da es schon nach den ersten «FT»-Artikeln zu aussergewöhnlichen Kursstürzen der Wirecard-Aktie an der Frankfurter Börse gekommen war, hatten Bafin und Münchner Staatsanwaltschaft Untersuchungen eingeleitet, ob Kursmanipulationen von Börsenspekulanten dahinter steckten.

Wie reagieren die Banken?
Die Zukunft des Dax-Konzerns hängt vom Wohlwollen der Banken ab, die nach Angaben das Wirecard wegen des fehlenden testierten Jahresabschlusses für 2019 das Recht haben, zwei Milliarden Euro Kredite zu kündigen. Der seit Freitag amtierende Interims-Chef James Freis kämpft ums Überleben seines Unternehmens: Man stehe weiterhin mit Hilfe der am Freitag angeheuerten Investmentbank Houlihan Lokey in «konstruktiven Gesprächen» mit den kreditgebenden Banken.

Die Hoffnung auf ein Stillhalten der Banken wurde von einem Zeitungsbericht gestützt: Wie die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» berichtete, wollen die Banken das Unternehmen nicht fallen lassen. «Keiner hat ein Interesse daran, den Kredit zu kündigen», hiess es demnach am Samstag aus einem der beteiligten Geldhäuser. «Alle wollen jetzt das Ding kurzfristig stabilisieren.» (awp/mc/pg)

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