Europawahl: Rechtsruck in Europa bleibt aus

Europawahl: Rechtsruck in Europa bleibt aus

Brüssel / Berlin / Bremen – Union und SPD erleben in Deutschland bei der Europawahl ein historisches Desaster und verlieren Millionen Wähler an die Grünen. Die Ökopartei verdrängt erstmals bundesweit die SPD vom zweiten Platz, die grosse Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) kommt damit immer stärker in Bedrängnis. Auch europaweit verlieren Christdemokraten und Sozialdemokraten. Nationalisten und Populisten legen unterm Strich zu, für einen Rechtsruck reicht es aber nicht.

Kleiner Trost für die CDU: Bei der Wahl des Landesparlaments in Bremen überflügelt sie erstmals seit dem Krieg die SPD. Die Sozialdemokraten müssen womöglich in ihrer einstigen norddeutschen Hochburg in die Opposition gehen.

Schwere Belastung für GroKo
SPD und Union haben bei einer bundesweiten Wahl noch nie so schlecht abgeschnitten, weder bei einer Europa- noch einer Bundestagswahl. Für das ohnehin fragile Bündnis in Berlin bedeutet das erneut eine schwere Belastung.

Ungewiss war am Sonntagabend zunächst, welche Konsequenzen vor allem die SPD zieht. Bereits vorher stand Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles intern in der Kritik. Zudem ist ein Teil des linken Flügels die Koalition mit der Union leid, doch eine vorgezogene Bundestagswahl könnte bei so geringer Beliebtheit verheerend enden.

Aber auch in der CDU mit ihrer neuen Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer dürfte nach dem Ausbleiben des erhofften Aufschwungs eine Diskussion über die Aufstellung im Bund folgen. Für nächsten Sonntag hat die Parteichefin bereits eine Führungsklausur angesetzt.

Ohnehin ist eine kleine Kabinettsumbildung nötig, weil die EU-Spitzenkandidatin der SPD, Katarina Barley, nach Brüssel wechselt und daher bereits ihren Rückzug als Justizministerin angekündigt hat.

SPD abgeschlagen
Nach dem vorläufigen Ergebnis für Deutschland bleibt die Union zwar stärkste Kraft, rutscht aber auf 28,9 Prozent (EU 2014: 35,4 Prozent; Bundestag 2017: 32,9). Noch schlimmer ist das Ergebnis für die SPD: Sie wird mit 15,8 Prozent nur noch Dritte (EU: 27,3; Bundestag: 20,5).

Die Grünen verdoppeln mit 20,5 Prozent ihr EU-Ergebnis (10,7; Bundestag: 8,9). Die AfD bleibt mit 11,0 Prozent etwas unter den Erwartungen (7,1; Bundestag: 12,6). Die FDP fällt mit 5,4 Prozent weit hinter ihr Bundestagsergebnis (3,4; Bundestag: 10,7). Auch die Linke schwächelt: 5,5 Prozent (7,4; Bundestag: 9,2). Die Wahlbeteiligung liegt bei 61,4 Prozent (48,1), weit höher als 2014.

Eine grosse Rolle hat offensichtlich das Thema Klimaschutz gespielt: Die Grünen gewinnen von SPD und Union jeweils mehr als eine Million Wähler: laut Infratest-dimap-Analyse 1,29 Millionen von der SPD und 1,11 Millionen von der Union. Bei Wählern unter 60 und in den Metropolen werden sie stärkste Kraft. In jenen Ost-Ländern dagegen, in denen im Herbst gewählt wird, spielen sie nur eine untergeordnete Rolle: In Sachsen und Brandenburg ist die AfD stärkste Partei, in Thüringen zweitstärkste.

Nahles: «Ergebnis extrem enttäuschend»
SPD-Chefin Nahles nannte das Ergebnis am Abend «extrem enttäuschend». Generalsekretär Lars Klingbeil erklärte: «Das Ergebnis kann nicht ohne Folgen bleiben.» Er wandte sich aber gegen Personaldebatten.

Für CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer entspricht das EU-Ergebnis nicht dem Anspruch der Partei, auch wenn das Ziel erreicht sei, stärkste Partei zu werden.

In Europa insgesamt wird das Politikmachen nun schwieriger. Nach schweren Verlusten haben Christ- und Sozialdemokraten zusammen keine Mehrheit mehr im Europaparlament und brauchen Partner. Auch wenn rechtspopulistische Parteien zulegen, bleibt ein Rechtsruck aus. Deutliche Zugewinne verbuchen nach ersten Trends Liberale und Grüne.

Im 751 Abgeordnete umfassenden EU-Parlament verteilen sich die Sitze demnach so: christdemokratische EVP 178 (minus 38), Sozialdemokraten 152 (minus 33), Liberale 108 (plus 33; wenn die Partei des französischen Präsidenten Emmanuel Macron mitgezählt wird), Grüne 67 (plus 15), Linke 39 (minus 8), die bisher drei rechtspopulistischen und nationalistischen Fraktionen zusammen 169 Sitze (plus 14). Die Fraktionen könnten sich aber noch neu sortieren.

Bremen: Grüne Zünglein an der Waage
Im kleinsten Bundesland Bremen hängt jetzt alles von den Grünen ab: Wer sie für ein Bündnis gewinnen kann, dürfte Regierungschef werden. Rechnerisch möglich wäre es, dass das bisherige rot-grüne Bündnis um die Linken erweitert wird und der Sozialdemokrat Carsten Sieling doch noch Bürgermeister bleibt. Mindestens genauso denkbar wäre eine Jamaika-Koalition von CDU, Grünen und FDP unter dem CDU-Spitzenkandidaten Carsten Meyer-Heder, einem IT-Unternehmer und politischen Quereinsteiger. Die Grünen halten beide Optionen offen.

Laut Hochrechnung des Bremer Wahlleiters (02.15 Uhr) ist die SPD dort mit 23,9 Prozent (2015: 32,8) erstmals seit 73 Jahren nicht mehr stärkste Kraft. Die CDU hingegen legt auf 24,8 Prozent (2015: 22,4) zu. Die Grünen erringen mit 16,4 Prozent (15,1) die Stellung, die sie auch im Bund anstreben: Ohne sie geht nichts. Die Linke steigert sich auf 10,3 Prozent (9,5), die FDP liegt bei 5,8 (6,6), die AfD bei 6,2 (5,5). Das Endergebnis wird wegen des komplizierten Wahlverfahrens mit fünf Stimmen dort erst Mittwoch erwartet.

Bremens Regierungschef Carsten Sieling (SPD) war enttäuscht, lehnte persönliche Konsequenzen aber ab: «Wir gucken in die Zukunft und wollen gestalten.»

400 Millionen Wahlberechtigte
Zur Wahl des Europaparlaments waren in den 28 EU-Mitgliedstaaten mehr als 400 Millionen Menschen wahlberechtigt. Das Parlament hat wichtige Kompetenzen in der EU-Gesetzgebung und muss etwa dem EU-Haushalt zustimmen. Es spielt eine wichtige Rolle bei der Nachfolge des scheidenden EU-Kommissionschefs Jean-Claude Juncker. Um den Posten ringen die EVP mit ihrem bisherigen Fraktionschef, dem Deutschen Manfred Weber (CSU), und die Sozialdemokraten mit dem bisherigen Vize-Kommissionspräsidenten, dem Niederländer Frans Timmermans. Auch die liberale dänische EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager meldete am Abend Ansprüche auf den Posten an. Die Staats- und Regierungschefs pochen bei der Vergabe auf ihr Vorschlagsrecht.

Sehr unterschiedlich ist nach den Prognosen die Entwicklung der Rechtspopulisten. In Italien wird die Lega von Innenminister Matteo Salvini stärkste Kraft. In Frankreich stagniert die RN von Marine Le Pen – liegt aber knapp vor der Partei En Marche von Präsident Emmanuel Macron. Die Dänische Volkspartei halbiert sich. Die ungarische Fidesz von Ministerpräsident Viktor Orban, die von der EVP zu einer neuen Rechtsallianz wechseln will, legt zweistellig zu. Salvinis Hoffnung, die Rechten könnten stärkste Fraktion werden, dürfte sich dennoch nicht erfüllen. In Grossbritannien wird ferner die Brexit-Partei von Nigel Farage stärkste Kraft.

Kräftige Rückenstärkung für Kurz
In Österreich wird Kanzler Sebastian Kurz massiv gestärkt. Seine konservative ÖVP legt kräftig zu und liegt weit vor der SPÖ. Sein gefeuerter Koalitionspartner, die rechte FPÖ, fällt leicht. Das Bündnis war wegen eines FPÖ-Videos zerbrochen. (awp/mc/ps)

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