Merz im ersten Wahlgang durchgefallen

Berlin – CDU-Chef Friedrich Merz hat auf dem Weg ins Kanzleramt überraschend einen schweren Rückschlag erlitten: Der 69-Jährige scheiterte bei der Wahl im Bundestag im ersten Wahlgang. Er erhielt in geheimer Abstimmung 310 von 621 abgegebenen Stimmen und damit 6 weniger als die nötige Mehrheit von 316. Die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD haben zusammen 328 Sitze im Parlament.
Das ist in der Geschichte der Bundesrepublik in der Form ein Novum: Noch nie ist nach einer Bundestagswahl und erfolgreichen Koalitionsverhandlungen ein designierter Kanzler bei der Wahl im Bundestag gescheitert. Als Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) das Ergebnis verlas, zeigte der designierte Kanzler kaum eine Regung: versteinerte Gesichtszüge, der Kiefer fest, der Blick geradeaus. Was ein Tag des so lange erarbeiteten Triumphs hätte sein sollen, wurde ein Debakel.
Geschäftsführer Scholz regiert jetzt erstmal weiter
Union und SPD hatten am Montag mit der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags das erste schwarz-rote Bündnis besiegelt und ihre letzten Personalfragen geklärt. Mit der Kanzlerwahl wollten die beiden Fraktionen nun die letzte Hürde auf dem Weg zu einer funktionsfähigen Regierung ein halbes Jahr nach dem Aus der Ampel-Koalition nehmen.
Das ist nun erstmal krachend gescheitert. Die geplante Ernennung von Merz durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist zunächst geplatzt. Die Vereidigung des Kabinetts auch. Der geschäftsführende Kanzler Olaf Scholz (SPD) und sein rot-grünes Rumpf-Kabinett regieren jetzt erstmal weiter.
Klingbeil versichert: SPD stand zu Merz
Wer für das Scheitern von Merz im ersten Anlauf verantwortlich ist, ist noch unklar. Union und SPD hatten vor der Sitzung angegeben, dass ihre Abgeordneten komplett anwesend seien, also 328. Das bedeutet, dass mindestens 18 nicht für Merz gestimmt haben, vielleicht auch mehr. Theoretisch könnten ja auch Oppositionspolitiker ihre Stimme für Merz abgegeben haben.
An der SPD habe es nicht gelegen, versicherten die Genossen sofort. SPD-Fraktionschef Lars Klingbeil erklärte nach Angaben aus Fraktionskreisen, er habe «nicht den geringsten Hinweis, dass die SPD nicht vollständig gestanden hat». Das deutliche Mitgliedervotum über den Koalitionsvertrag sei ein Auftrag an die Fraktion. «Und sie erfüllt diesen. Auf uns ist Verlass», betonte der designierte Vizekanzler demnach.
Doch sicher kann auch Klingbeil letztlich nicht sein, denn die Wahl war geheim – es lässt sich also nicht überprüfen, ob nicht doch ein jemand anders abgestimmt hat, als er oder sie angekündigt hat. Die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), betonte nach einer Fraktionssitzung: «Ich vertraue all unseren Kolleginnen und Kollegen in der SPD-Fraktion.» Und sie zeigte sich entsetzt. «Ich finde das, was heute passiert ist, unverantwortlich», betonte Schwesig.
Linke «krachsauer», Grüne besorgt
Aus der Opposition frohlockte vor allem die AfD und forderte sofort eine Neuwahl des Bundestags. Grünen-Chefin Franziska Brantner dagegen sagte der Deutschen Presse-Agentur: «Wir wünschen uns für Europa und Deutschland eine handlungsfähige Regierung.» Merz und Klingbeil müssten nun beweisen, dass sie die Mehrheit ihrer Fraktionen jetzt, aber auch für vier Jahre sichern könnten. Thüringens früherer Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) machte ebenfalls Merz und Klingbeil für die Lage verantwortlich. «Ich bin krachsauer auf die Koalition», sagte er der dpa.
Wie es jetzt weitergeht
Auch wenn es noch nie vorgekommen ist, regelt das Grundgesetz auch den Fall eines gescheiterten Wahlgangs. «Wird der Vorgeschlagene nicht gewählt, so kann der Bundestag binnen 14 Tagen nach dem Wahlgang mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen», heisst es in Artikel 63.
Wann der nächste Wahlgang stattfindet, blieb zunächst offen – und wurde in unterschiedlich besetzten Runden im Büro von Merz besprochen: mal Union und SPD allein, mal mit Grünen und Linken. Merz kann erneut antreten – doch das wird er wohl erst tun, wenn er Signale bekommt, dass ein zweiter Wahlgang erfolgreicher ausfällt.
Nächster Wahlgang am Mittwoch?
Die Anzeichen mehren sich, dass es einen neuen Wahlgang frühestens am Mittwoch geben könnte. Endgültige Klarheit gab es aber zunächst nicht. Wie es aus Fraktionskreisen hiess, werde geprüft, ob ein Wahlgang am Mittwoch möglich sei, dazu müsste es dem Vernehmen nach Einigkeit mit der Opposition über gewisse Fristverkürzungen geben. Ein zweiter Wahlgang am heutigen Dienstag gilt aber auch noch nicht als ganz ausgeschlossen.
Nach zwei Wochen ändert sich die notwendige Mehrheit
Innerhalb der zweiwöchigen Frist kann es beliebig viele Wahlgänge auch mit neuen Kandidatinnen und Kandidaten geben. Aber auch sie brauchen die absolute Mehrheit von mindestens 316 Stimmen, um gewählt zu sein. Schafft das niemand, werden im nächsten Schritt die Anforderungen gesenkt. Dann reicht für die Wahl die einfache Mehrheit. Im Grundgesetz heisst es: «Kommt eine Wahl innerhalb dieser Frist nicht zustande, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. (awp/mc/pg)