Putschversuch in der Türkei – Regierung: Lage unter Kontrolle

Putschversuch in der Türkei – Regierung: Lage unter Kontrolle
Recep Tayyip Erdogan, türkischer Staatspräsident.

Recep Tayyip Erdogan, türkischer Staatspräsident.

Istanbul / Berlin – Bei einem Putschversuch von Streitkräften in der Türkei gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat es zahlreiche Tote und Verletzte gegeben. «Die Situation ist weitgehend unter Kontrolle», sagte der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim am frühen Samstagmorgen. Mehr als 1500 Putschisten seien festgenommen worden. Es gab schwere Explosionen, darunter am Parlament in der Hauptstadt Ankara. Auch am Morgen war die Lage noch unübersichtlich. Im Morgengrauen noch waren in Istanbul Schüsse und Explosionen zu hören.

Die deutsche Bundesregierung verlangte, die demokratische Ordnung in der Türkei zu respektieren, wie es in einer Erklärung von Regierungssprecher Steffen Seibert hiess. Das Auswärtige Amt riet allen Deutschen in Ankara und in Istanbul zu «äusserster Vorsicht».

«Wollen Militär vollständig säubern»
Erdogan sagte, bei den Putschisten handele es sich um eine Minderheit in den Streitkräften. «Wir haben mit der Operation begonnen, das Militär vollständig zu säubern. Und wir werden diese Operation weiterführen.»  Gemäss dem kommissarischen Militärchef Ümit Dündar kamen 265 Menschen ums Leben, darunter 104 Putschisten. Die Zahl der Verletzten stieg auf 1154.

Laut jüngsten Informationen aus Kreisen der Regierung wurden nach dem Umsturzversuch inzwischen 1563 mutmassliche Teilnehmer des Putsches aus den Reihen der Streitkräfte festgenommen. Fünf Generäle und 29 Oberste seien ihrer Posten enthoben worden.

Die Ereignisse in dem Nato-Mitgliedsland hatten sich zuvor überschlagen. Am späten Freitagabend begannen türkische Streitkräfte mit einem Putschversuch gegen Erdogan, wie das Militär nach Angaben der privaten Nachrichtenagentur DHA mitteilte. Damit sollten unter anderem die verfassungsmässige Ordnung, die Demokratie und die Menschenrechte wiederhergestellt werden. Zunächst hiess es, die Streitkräfte hätten die Macht in der Türkei übernommen.

Aufruf ans Volk
Aus dem Präsidialamt wurde dies bestritten. Erdogan sei nicht abgesetzt. «Das ist ein Angriff gegen die türkische Demokratie. Eine Gruppe innerhalb der Streitkräfte hat ausserhalb der Kommandostruktur einen Versuch unternommen, die demokratisch gewählte Regierung zu stürzen.» Erdogan rief in einem live übertragenen Telefonanruf beim Sender CNN Türk das Volk zu öffentlichen Versammlungen gegen die Putschisten auf.

Ministerpräsident Yildirim wies das Militär nach Angaben aus dem Präsidialamt an, von den Putschisten gekaperte Flugzeuge abzuschiessen. Kampfflugzeuge mit einem entsprechenden Auftrag seien von der Luftwaffenbasis Eskisehir abgehoben. Yildirim bestellte alle Parteien für Samstagnachmittag zu einer Sondersitzung ins Parlament ein, wie Lokalmedien berichteten.

«Sie werden einen sehr hohen Preis für diesen Verrat zahlen»
Erdogan machte die Bewegung des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich. «Sie werden einen sehr hohen Preis für diesen Verrat zahlen», sagte Erdogan am Samstagmorgen am Atatürk-Flughafen in Istanbul.

Gülen ist ein einstiger Verbündeter Erdogans. Beide haben sich aber 2013 überworfen. Gülen – der in der Türkei inzwischen als Terrorist gilt – verurteilte den Putschversuch auf das Schärfste. Eine Regierung müsse durch freie und faire Wahlen an die Macht kommen, nicht durch Gewalt, hiess es in einer Mitteilung.

Erdogan war auf Weg an Ägäis-Küste
Erdogan sagte, er sei vor seinem Flug nach Istanbul in Marmaris an der türkischen Ägäis-Küste gewesen. Unmittelbar nach seiner Abreise hätten die Putschisten «diesen Ort leider genauso bombardiert».

Während des Putschversuchs hatte es aus dem Präsidialamt geheissen, Erdogan sei in der Türkei und in Sicherheit. Erdogan ist ein wichtiger, aber umstrittener Partner der Europäischen Union in der Flüchtlingskrise.

Armee sieht sich als Wächterin
Nach einer zeitweisen Besetzung durch Putschisten nahm der Sender CNN Türk die Berichterstattung wieder auf. Soldaten waren in der Nacht zu Samstag in das Redaktionsgebäude in Istanbul eingedrungen und hatten die Mitarbeiter dazu gezwungen, den Sender zu verlassen.

Die türkische Armee sieht sich als Wächterin der weltlichen Verfassung des Landes und hatte in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt gegen die Zivilregierung geputscht.

Kampfflugzeuge im Tiefflug
In Istanbul waren in der Nacht Schüsse in den Strassen zu hören. Kampfjets flogen im Tiefflug über die Stadt. Gegen 02.40 Uhr Ortszeit (01.40 MESZ) wurde Istanbul von einer schweren Explosion erschüttert.

Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, bei einem Luftangriff der Putschisten auf das Hauptquartier der Spezialkräfte der Polizei in Ankara seien 17 Polizisten getötet worden. Ausserdem sei ein Hubschrauber der Putschisten in Ankara von F-16-Kampfflugzeugen abgeschossen worden.

Fast hundert Verletzte
Die Nachrichtenagentur DHA berichtete, in Istanbul seien sechs Zivilisten durch Schüsse getötet und fast hundert verletzt worden. Die Toten und Verletzten seien in ein Krankenhaus auf der asiatischen Seite der Stadt eingeliefert worden. Der Sender NTV berichtete, 13 Soldaten seien bei dem Versuch festgenommen worden, ins Präsidialbüro in Ankara einzudringen.

Im Istanbuler Stadtteil Tophane waren Dutzende Gegner des Putsches auf die Strasse gegangen. Ein dpa-Reporter berichtete am frühen Samstagmorgen, die Menge habe unter anderem «Gott ist gross» und «Nein zum Putsch» gerufen. Der US-Fernsehsender CNN International und die britische BBC zeigten Live-Bilder aus der Stadt: Menschen strömten in Massen auf die Strasse und schwenkten türkische Fahnen.

Flugverkehr zwischenzeitlich gestoppt
In Ankara kam es einem Bericht des Senders CNN Türk zufolge zu Gefechten zwischen Polizei und Militär. Die Armee habe die Polizeidirektion beschossen, hiess es. Augenzeugen berichteten von Panzern in den Strassen der Hauptstadt.

Einem Medienbericht zufolge hatten Streitkräfte ausserdem den Flugverkehr am Atatürk-Flughafen in Istanbul zwischenzeitlich gestoppt. Soldaten hätten den Tower am grössten Flughafen des Landes am Freitagabend unter ihre Kontrolle gebracht, hatte die Nachrichtenagentur DHA gemeldet. Nach Erdogans Aufruf drangen Demonstranten in das Flughafengelände ein. Das Militär sei daraufhin wieder abgezogen.

Obama ruft zur Unterstützung der Regierung auf
US-Präsident Barack Obama rief dazu auf, die demokratisch gewählte Regierung des Landes zu unterstützen. Gewalt und Blutvergiessen müssten vermieden werden, hiess es in einer Mitteilung des Weissen Hauses. Ähnlich äusserte sich die Europäische Union. Die EU verlangte eine «schnelle Rückkehr» zur verfassungsmässigen Ordnung, wie es am Rande des Asien-Europa-Gipfels in Ulan Bator in einer gemeinsamen Erklärung von EU-Ratspräsident Donald Tusk, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der EU-Aussenbeauftragten Federica Mogherini hiess. «Die Türkei ist ein wichtiger Partner der EU.» Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg rief zu Zurückhaltung und Respekt vor den demokratischen Institutionen und der türkischen Verfassung auf.

SWISS streicht heute alle Flüge nach Istanbul
Die Fluglinie SWISS streicht heute, Samstag, aufgrund der Situation in der Türkei alle Flüge nach Istanbul. Die Fluglinie wird die betroffenen Passagiere davon unterrichten.

SWISS und Edelweiss Air Flüge zu den Feriendestinationen Bodrum, Atalya und Izmir sollen bis auf weiteres planmässig fliegen. Alle Passagiere, die mit diesen Fluglinien heute in die Türkei fliegen wollen, können ihre Flüge jedoch kostenlos stornieren oder umbuchen.

Die deutschen Fluglinien Lufthansa, Eurowings und Air Berlin sagten in der Nacht zu Samstag Flüge aus der Türkei und in das Land hinein ab. «Wir werden bis morgen Mittag 12 Uhr alle Verbindungen von und in die Türkei streichen», sagte ein Lufthansa-Sprecher. «Danach werden wir sehen, wie sich die Lage weiterentwickelt.»

In den türkischen Ferienzentren war die Lage nach Angaben der Tui ruhig. Der Reiseveranstalter Thomas Cook forderte die Urlauber auf, «vorsichtshalber bis auf weiteres in ihren Hotels zu bleiben». (awp/mc/upd/ps)

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