Weitere Verhandlungen: Selenskyi und Lawrow teilen vorsichtigen Optimismus

Weitere Verhandlungen: Selenskyi und Lawrow teilen vorsichtigen Optimismus
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beim Treffen mit den Staatschefs von Polen, Tschechien und Sloweniens. (Mateusz Morawiecki/Twitter)

Kiew/Moskau – Knapp drei Wochen nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine sieht Russlands Aussenminister Sergej Lawrow Chancen auf einen Kompromiss bei den zähen Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj äusserte sich in der Nacht zu Mittwoch zu den Gesprächen vorsichtig optimistisch. Am Mittwoch wollten Vertreter beider Länder ihre Gespräche im Online-Format fortsetzen. Unterdessen gingen die russischen Angriffe auf ukrainische Städte weiter. Die Verteidigungsminister der Nato erwogen am Mittwoch bei einem Verteidigungsministertreffen eine signifikante und dauerhafte Verstärkung der Ostflanke.

Die Gespräche zwischen Moskau und Kiew seien aus offensichtlichen Gründen nicht einfach, sagte Lawrow am Mittwoch dem Sender der russischen Zeitung «RBK». «Dennoch besteht eine gewisse Hoffnung, einen Kompromiss zu erzielen.» Es gebe bereits konkrete Formulierungen, «die meiner Meinung nach kurz vor der Einigung stehen». Dabei geht es Lawrow zufolge darum, dass sich die Ukraine für neutral erklären soll. Dieses werde nun «ernsthaft diskutiert, natürlich in Verbindung mit Sicherheitsgarantien».

Selenskyj sagte in einer in der Nacht zu Mittwoch veröffentlichten Videobotschaft, die Verhandlungspositionen hörten sich realistischer an. Bis die Ukraine zufrieden sein könne, dauere es aber noch. «Wir alle wollen so schnell wie möglich Frieden und Sieg», meinte der Präsident. «Aber es braucht Mühe und Geduld. Es muss noch gekämpft und gearbeitet werden.» Jeder Krieg ende mit einer Vereinbarung.

Nato diskutiert dauerhafte Konsequenzen der russischen Invation
In der Nato soll eine Diskussion über die längerfristige Stärkung der Sicherheit in allen Bereichen begonnen werden, wie Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte. Am Rande des Treffens am Mittwoch sagte er, Russlands Invasion in die Ukraine werde dauerhafte Konsequenzen für das Verteidigungsbündnis haben. «Sie wird unser Sicherheitsumfeld verändern und sie wird langfristige Folgen für alle Nato-Alliierten haben.»

Estland bekräftigte seine die Forderung nach einer Flugverbotszone über der Ukraine. «All diese Staaten, die eine Flugverbotszone kontrollieren können, müssen handeln», sagte Verteidigungsminister Kalle Laanet am Mittwoch am Rande der Beratungen in der Nato-Zentrale in Brüssel. Er betonte zudem, dass Estland die Ukraine mit allen Mitteln unterstütze. Die Durchsetzung einer Flugverbotszone durch die Nato gilt allerdings als derzeit ausgeschlossen.

Nato-Friedensmission trifft auf wenigen Gegenliebe
Wenig Resonanz fand auch ein Vorstoss Polens für eine Friedensmission für die Ukraine. Der polnische Vizeregierungschef Jaroslaw Kaczynski hatte eine solche Mission in der Nacht zum Mittwoch nach einem Gespräch der Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew ins Gespräch gebracht. Er sagte: «Ich denke, dass eine friedenserhaltende Mission der Nato oder möglicherweise einer noch breiteren internationalen Struktur notwendig ist, aber eine solche Mission, die auch in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen, und die auf ukrainischem Territorium operieren wird.»

Zurückhaltend äusserten sich am Mittwoch am Rande des Nato-Treffens unter anderem Verteidigungsminister aus Ländern wie Grossbritannien, Finnland und Kanada. «Ich fürchte, es ist noch zu früh, um darüber zu sprechen», sagte die niederländische Verteidigungsministerin Kajsa Ollongren. Es sei sehr schwierig, sich derzeit mit der Intensität des Krieges und der Belagerung der Städte eine Friedensmission vorzustellen.

Keine Evakuierung aus Mariupol und Isjum
In einem Krankenhaus der südostukrainischen Hafenstadt Mariupol warf die Ukraine russichen Streitkräften eine Geiselnahme von rund 400 Zivilisten vor. «Und jetzt wird aus dem Krankenhaus heraus geschossen», sagte Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk in einer Videobotschaft. Zuvor hatte bereits die Hilfsorganisation Media Initiative for Human Rights entsprechende Vorwürfe erhoben. Von russischer Seite gab es zunächst keine Stellungnahme. Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.

Auf eine Evakuierung am Mittwoch können Zivilisten aus umkämpften Städten und Dörfern nach Angaben aus Kiew nicht hoffen. «Die Frage humanitärer Korridore für Isjum und Mariupol ist offen. Es ist derzeit unmöglich, Menschen dort gefahrlos herauszuholen», sagte Wereschtschuk. «Wege für die Lieferung von Lebensmitteln und Medikamenten in eroberte Städte werden ausgearbeitet.»

Rotkreuz-Chef Peter Maurer reiste nach Kiew. Er sei für fünf Tage vor Ort, um sich für besseren Zugang für humanitäre Organisationen und einen grösseren Schutz der Zivilbevölkerung einzusetzen, teilte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz am Mittwoch in Genf mit.

Katastrophale Lage
Die Lage in einigen ukrainischen Städten wie Isjum im Nordosten des Landes, das von der russischen Armee belagert wird, oder der südostukrainischen Hafenstadt Mariupol, die seit Tagen vollständig eingeschlossen ist, gilt als katastrophal. In den vergangenen Tagen waren immer wieder Menschen über vereinbarte Fluchtkorridore entkommen. In Mariupol waren mehrere Evakuierungsversuche gescheitert, bis am Dienstag schliesslich etwa 20 000 Menschen die Stadt verlassen konnten.

Schwere Verluste für russische Truppen
Die russische Armee soll nach Angaben des ukrainischen Generalstabs bereits bis zu 40 Prozent ihrer Einheiten verloren haben, die seit dem russischen Einmarsch am 24. Februar an Kämpfen beteiligt waren. Diese Truppen seien entweder vollständig zerschlagen worden oder hätten ihre Kampfkraft verloren, teilte der Generalstab in Kiew in der Nacht zu Mittwoch mit. Eine genaue Zahl wurde die nicht genannt. Die Angaben können nicht unabhängig geprüft werden. Auch das britische Verteidigungsministeriums sprach von «schweren Verlusten».

Wirtschaftlich um zwei Jahrzehnte zurückgeworfen
Die Vereinten Nationen warnten am Mittwoch auch vor den Folgen des Krieges für die Menschen in der Ukraine. Im Falle einer andauernden Invasion könnten in der Ukraine nach ersten Schätzungen in den kommenden zwölf Monaten rund 90 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen sein. Eine anhaltende russische Invasion könnte das Land wirtschaftlich in diesem Zeitraum um fast zwei Jahrzehnte zurückwerfen, teilte das UN-Entwicklungsprogramms UNDP am Mittwoch mit. «Jeder Tag, den der Frieden auf sich warten lässt, beschleunigt den freien Fall in die Armut für die Ukraine», warnten die UN. (awp/mc/pg)

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