Bruno Jochum, Generaldirektor Médecines Sans Frontières Schweiz

Bruno Jochum, Generaldirektor Médecines Sans Frontières Schweiz
Bruno Jochum, Generaldirektor Médecines Sans Frontières Schweiz. (Foto: MSF)

Bruno Jochum, Generaldirektor Médecines Sans Frontières Schweiz. (Foto: MSF)

von Patrick Gunti

Moneycab: Herr Jochum, die Philippinen nach dem Taifun Haiyan, die humanitäre Katastrophe in Syrien, die Situation in der Zentralafrikanischen Republik nach dem Staatsstreich vom März – was beschäftigt Sie derzeit am meisten?

Bruno Jochum: Diese Krisen unterliegen nicht der gleichen Dynamik und die betreffenden Bedürfnisse sind sehr unterschiedlich. Der zerstörerische Taifun, der im November die Philippinen heimsuchte, verlangte einen sofortigen Einsatz. Unser Engagement wird aber zweifellos von kurzer Dauer sein, denn in einigen Wochen – spätestens in ein paar Monaten – sollten die bestehenden nationalen Kapazitäten ausreichen, um den grössten Teil der Bedürfnisse der Bevölkerung abdecken zu können. Nur eines oder zwei unserer Projekte sind dort längerfristig ausgerichtet.

Hingegen sind die humanitären Krisen als Folge der Konflikte in Syrien und in der Zentralafrikanischen Republik komplex, tiefgreifend und länger anhaltend. Die Gesundheitszentren sind in diesen Ländern nicht mehr funktionsfähig, es gibt keine Versorgung und oft auch kein Personal mehr. Die Verwundbarkeit der Bevölkerung wächst daher unaufhörlich. Die extreme Unsicherheit und der schwierige Zugang zu den Notleidenden stellen für uns eine permanente Herausforderung dar. Die Lage in diesen Ländern erfordert bedeutendere Mittel und ein langfristiges Engagement, um den direkten und indirekten Opfern der Gewalt helfen zu können.

Wie stark ist Médecines Sans Frontières auf den Philippinen engagiert, was tut MSF vor Ort?

Die ersten MSF-Teams kamen am 9. November, einen Tag nach dem Taifun, auf den Philippinen an und leisteten unmittelbar nach der Katastrophe medizinische Nothilfe. Heute helfen die MSF-Teams in rund einem Dutzend Städten und Dörfern auf den Inseln Leyte, Samar und Panay, die vom Taifun am härtesten getroffen wurden. Unsere Teams haben fast 31’000 Patienten ambulant behandelt, über 300 Patienten in Spitäler aufgenommen, die von MSF geführt oder unterstützt werden, und haben über 2100 Operationen und Behandlungen von Verletzungen durchgeführt.

Wir ermöglichen der Bevölkerung auch in entlegenen und schwer zugänglichen Gebieten Zugang zur Gesundheitsversorgung und wir unterstützen den Wiederaufbau des Gesundheitssystems vor Ort. Auch haben wir lebenswichtige Artikel wie Zelte, Wiederaufbaumaterial, Trinkwasser und Nahrung an die betroffenen Gemeinden verteilt. Bei allen Projekten bieten wir auch psychologische Hilfe an, um die Betroffenen bei der Verarbeitung des Erlebten zu unterstützen.

Auf der Insel Leyte ist praktisch die gesamte Infrastruktur zerstört. Wie können wir uns das Vorgehen von MSF vor Ort vorstellen? Wie läuft die Nothilfe ab, und was steht bei der längerfristigen Unterstützung im Vordergrund?

Wenn die nationalen Infrastrukturen zerstört sind, ist eine unserer ersten Handlungen vor Ort, mit mobilen Kliniken in Zelten oder aufblasbaren Krankenhäusern eine temporäre Struktur aufzubauen. So sind wir auch in der Stadt Tacloban auf der Insel Leyte vorgegangen. Das aufblasbare Krankenhaus besteht aus vier aufblasbaren Zelten zu je 100 m2 und einem fünften Zelt mit einer Fläche von 45 m2. Das Spital umfasst eine Notfallaufnahme, einen Behandlungsraum, eine Krankenstation und bis zu 45 Betten.

Das Entsenden von Frachtflugzeugen in den ersten Stunden einer Krise ist daher ausschlaggebend: Sobald die medizinischen Teams vor Ort sind, geht es darum, schnellstmöglich Medikamente sowie medizinisches und logistisches Material zu beschaffen. In den ersten Tagen nach der Katastrophe wurden über zehn Frachtflugzeuge mit medizinischem und logistischem Material auf die Philippinen entsandt. MSF bleibt für die medizinische Notfallversorgung auf den Philippinen bis die medizinische Versorgung durch die Behörden und die mit dem Wiederaufbau beschäftigten Akteure funktioniert.

«Die Risiken, denen MSF-Teams bei ihren Einsätzen ausgesetzt sind, sind unterschiedlich.»
Bruno Jochum, Generaldirektor Médecines Sans Frontières Schweiz

Während auf den Philippinen die Folgen einer Naturkatastrophe bewältigt werden müssen, befinden sich die MSF-Mitarbeitenden in Syrien in einem Kriegsgebiet. Wie gefährlich sind die Einsätze?

Die Risiken, denen MSF-Teams bei ihren Einsätzen ausgesetzt sind, sind unterschiedlich. Auf den Philippinen zum Beispiel, wo die Lage sonst stabil ist, kam es in den ersten Tagen nach dem Taifun zu Panik in der Bevölkerung und zu Gedränge, weil noch nicht genügend Lebensmittel verteilt werden konnten. Aber die medizinische Hilfe wird akzeptiert.

In Syrien findet die humanitäre und medizinische Arbeit hingegen in einem extrem gewalttätigen Umfeld statt, in welchem unsere Tätigkeit auch regelmässig zur Zielscheibe wird. So wurde erst im Juli einer unserer syrischen Kollegen brutal ermordet. Obwohl sich die Sicherheitslage weiter verschlechtert, erschweren die Nachbarländer die Möglichkeiten, die Grenze zu überqueren, und erschweren so gleichzeitig die Hilfe für die Bevölkerung in den Gebieten der Opposition, aber auch die Lage der Familien, die ins Ausland flüchten wollen. Unsere Teams vor Ort und am Hauptsitz in Genf analysieren die Sicherheitslage täglich. Die Sicherheit unserer Mitarbeiter steht für MSF an erster Stelle.

Stehen die Mitarbeitenden in umkämpften Gebieten in direktem Kontakt mit den Konfliktparteien?

Unabhängig vom Kontext ist das Verhandeln mit den beteiligten Parteien Voraussetzung für die Realisierung unserer Einsätze. Im Gegensatz zu anderen Organisationen verzichten wir auf militärischen Schutz, ausser zuletzt ausnahmsweise in Somalia. Der Dialog mit den verschiedenen Konfliktparteien erlaubt es uns, den Zugang zu verhandeln und über die Konditionen zu diskutieren, unter welchen wir unseren Aktivitäten nachkommen können. Ausserdem können wir die verschiedenen Parteien über unsere Hilfsmassnahmen informieren und ihnen unsere Handlungsprinzipien erklären, insbesondere unsere Unparteilichkeit und Unabhängigkeit. Unsere Teams halten deshalb den direkten Kontakt zu allen Konfliktparteien aufrecht.

«Unabhängig vom Kontext ist das Verhandeln mit den beteiligten Parteien Voraussetzung für die Realisierung unserer Einsätze.»

Brennpunkte wie die Philippinen oder Syrien stehen im Fokus der Öffentlichkeit. In welchen Ländern ist MSF Schweiz sonst aktiv und welche Projekte sind besonders wichtig?

Die andauernden und chronischen Notsituationen erhalten in den Medien relativ wenig Aufmerksamkeit. Beispielsweise hört man nur selten über die saisonale Mangelernährung der Bevölkerung in der Sahel-Zone, über die Situation im Sudan und in Somalia oder die Konflikte im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo, die zur Vertreibung von über 100’000 Menschen geführt haben. Gleichzeitig bilden diese Krisen den Alltag unserer Teams vor Ort, die mit entsprechend umfangreichen Massnahmen diesen Problemen entgegentreten. Wir führen auch bedeutende Programme zur Bekämpfung von HIV/Aids und Tuberkulose durch, hauptsächlich in Swasiland, wo jede vierte Person mit dem Virus infiziert ist. In Staaten, die  gemeinhin als stabil gelten wie Mexiko oder Honduras, unterstützen wir Projekte gegen die Gewalt, deren Ausmass in einigen Städten mit derjenigen in einer Konfliktzone zu vergleichen ist.

Das Elend, dem Ihre Mitarbeitenden vor Ort begegnen, ist enorm. Wie können sie Erlebtes verarbeiten und welche Unterstützung erhalten sie dabei?

Es ist eine der Hauptaufgaben des Koordinators vor Ort, mittels Verhandlungen Zwischenfälle zu verhindern und Vorkehrungen zu treffen, damit die Sicherheit unserer Teams gewährleistet ist. Aber in den Gebieten, in denen wir tätig sind, werden unsere Mitarbeiter bei ihren Einsätzen manchmal mit traumatischen Erlebnissen konfrontiert. In solchen Situationen mobilisieren wir schnelle psychologische Hilfe. So finden in den Tagen nach einem solchen Ereignis Gruppen- wie auch Einzelgespräche statt. Generell können alle Mitarbeiter, die von einem Einsatz zurückkehren, sich bei Bedarf an unsere Psychologen wenden.

Welche Eigenschaften muss jemand mitbringen, um für MSF in Krisengebieten tätig zu sein, sprich um Menschen in höchster Not im Feld medizinisch zu versorgen?

Nebst ausgezeichneten fachlichen Kompetenzen im jeweiligen Tätigkeitsgebiet sind weitere wichtige Fähigkeiten notwendig, um an Einsätzen vor Ort teilzunehmen. Dazu gehören Aufmerksamkeit, Verständnis für andere Kulturen, die Fähigkeit, auf die Menschen um einen herum zu hören, und ausgeprägte Teamfähigkeit. Ausserdem muss man mit Stress-Situationen umgehen können. Über das «gewusst wie» hinaus ist also das richtige Verhalten essenziell.

Médecines Sans Frontières ist eine der weltweit wichtigsten humanitären Organisationen. Wie autonom funktionieren die Länderorganisationen wie MSF Schweiz?

Die Ländersektionen von MSF operieren unabhängig, will heissen, dass jedes Operationszentrum in seiner Entscheidungsfindung autonom ist, aber gleichzeitig Teil einer Organisation mit einer einheitlichen Identität und einem sozialen Auftrag ist. Die verschiedenen Zentren sprechen sich bei der Analyse oder bei der Teilung von Ressourcen untereinander kontinuierlich ab und arbeiten bei der geographischen Aufteilung der Programme zusammen. In einigen Ländern sind alle Ländersektionen vor Ort, beispielsweise in Syrien, in der Demokratischen Republik Kongo oder auf den Philippinen. Erfahrungsgemäss ist die Tatsache, mehrere Sektionen vor Ort zu haben, ein grosser Vorteil bei einer notfallmässigen Mobilisierung oder wenn es notwendig ist, grosse geographische Gebiete abzudecken, wie zum Beispiel im Sudan.

Am Beispiel der Philippinen: Wie wird entschieden, welche MSF Länderorganisationen im Einsatzgebiet tätig sind?

In einem Notfall evaluiert das erste Team vor Ort die Bedürfnisse und mobilisiert anschliessend die anderen Sektionen, damit sie in den betroffenen Regionen eingesetzt werden können. Am Beispiel der Philippinen: Die belgische Sektion führte unmittelbar nach dem Taifun die ersten Erkundungen durch, anschliessend kamen alle Sektionen zum Einsatz, und zwar jede in einer genau bestimmten Zone. Das operative Zentrum in Genf (MSF Schweiz) hat seine Bemühungen auf die Insel Panay und die umliegenden Inseln konzentriert, deren Bevölkerungen bis dahin noch keine Hilfe von aussen erhalten hatten.

«Fast die Hälfte unserer Mittel stammt aus privaten Spenden in der Schweiz.»

Médecines Sans Frontières finanziert sich aus Spenden, Vermächtnissen und Erbschaften. Was für ein jährliches Budget steht MSF Schweiz zur Verfügung? Erhalten kleinere MSF-Länderorganisationen zusätzliches Geld von grösseren Sektionen?

Es gibt fünf operationelle Zentren, welche die Projekte koordinieren und leiten, und 20 Büros, die sich um die Mittelbeschaffung und die Rekrutierung kümmern. Es bestehen Vereinbarungen zur Aufteilung der Ressourcen, wodurch jedes operationelle Zentrum in seinen Projekten von den anderen Sektionen unterstützt wird. Das Budget von MSF Schweiz betrug 2012 170 Millionen Franken, wovon 88 Prozent für den sozialen Auftrag eingesetzt wurden. Fast die Hälfte unserer Mittel stammt aus privaten Spenden in der Schweiz. Die andere Hälfte kommt von unseren Partner-Sektionen (insbesondere aus den USA, Australien, Kanada, Deutschland und Österreich), die finanzielle Mittel beschaffen, aber selber keine Einsätze leiten. Institutionelle Gelder machen nur 14 Prozent unseres Budgets aus.

1999 erhielt MSF den Friedensnobelpreis. Bei seiner Dankesrede sagte der damalige MSF-Präsident James Orbinski: «Wir sind nicht sicher, dass Worte retten, aber wir wissen, dass Schweigen tötet.“ MSF schweigt also nicht, und macht auf Missstände und Notlagen aufmerksam. Gleichzeitig gehört zu den MSF-Grundsätzen, dass die Tätigkeit neutral und unparteiisch erfolgt. Wie gelingt dieser Spagat?

Diese operationellen Prinzipien widersprechen sich nicht im Geringsten. Neutralität bedeutet, dass wir in einem Konflikt nicht Partei ergreifen. Unparteilichkeit heisst für uns, dass wir uns entsprechend den ermittelten Bedürfnissen für die Schwächsten einsetzen. Das rechtfertigt auch, dass wir manchmal nur von einer Seite des Konflikts her intervenieren, ohne deshalb als parteiisch verurteilt zu werden. Indem wir das Wort ergreifen, können wir in bestimmten Fällen Massenverbrechen anprangern, die vor unseren Augen passieren. Zudem können wir auf die Behinderung von Hilfsleistungen und grössere Störungen des Hilfe-Systems hinweisen. Und wir können auch auf vergessene Krisenherde aufmerksam machen.

Aber es ist klar, dass die öffentliche Stellungnahme auch direkte Konsequenzen für unsere Einsätze haben kann –  wie zum Beispiel die Ausweisung aus Krisengebieten. MSF wägt deshalb alle möglichen Konsequenzen eingehend ab.  Vielfach gehen wir aber an die Öffentlichkeit, weil wir alle anderen Möglichkeiten der Hilfeleistung ausgeschöpft haben und der Einfluss unserer Massnahmen vor Ort zu schwach wird. Dann ist es besser das Schweigen zu brechen.

Herr Jochum, herzlichen Dank für das Interview.

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Zur Person:
Bruno Jochum wurde im Juni 2011 zum Generaldirektor von MSF Schweiz ernannt. Seit 2006 war er operationeller Leiter der MSF Einsatzzentrale in Genf, wo er für die Ausgestaltung der Hilfsprogramme in 21 Ländern verantwortlich zeichnete.

Seine humanitäre Tätigkeit begann Bruno Jochum 1993 im Rahmen medizinischer Hilfsaktionen am Horn von Afrika und in der Gegend der Grossen Seen. 1994 wurde ihm für die Betreuung der zahlreichen Flüchtlinge aus Ruanda und zur Bekämpfung der sich ausbreitenden Choleraepidemie die Einsatzleitung in Goma (D.R. Kongo) anvertraut. Nachdem er sich während 5 Jahren bei einer französischen Regionalverwaltung um wirtschafts- und sozialpolitische Belange gekümmert hatte, übernahm er im Jahr 2001 im Iran sowie im westlichen Teil Afghanistans die Leitung von verschiedenen MSF Hilfsprogrammen.

2003 wurde er schliesslich in der Genfer Einsatzzentrale Programmbeauftragter für eine Ländergruppe, zu welcher Somalia, Sudan, Myanmar und die mittelamerikanischen Staaten zählten. In dieser Eigenschaft beaufsichtigte er die strategische Planung wie auch die logistische Organisation der medizinischen Hilfsprojekte, welche in den Konfliktzonen und in den von Epidemien bzw. endemischen Krankheiten (wie HIV, TB oder Schlafkrankheit) heimgesuchten Gebieten in die Wege geleitet wurden.

Nach seinem Studium der Politikwissenschaften in Strassburg und Paris hat Bruno an der Sorbonne sowie an der Universität Nancy den Master in den Fachbereichen “Internationale Beziehungen“ und “Völkerrecht“ erworben.

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