Michael Süss, Executive Chairman Oerlikon Group, im Interview

Michael Süss, Executive Chairman Oerlikon Group, im Interview
Michael Süss, Executive Chairman Oerlikon Group. (Foto: zvg)

von Bob Buchheit

Moneycab.com: Herr Süss, ein zyklischer Abschwung erwartet das Filament-Geschäft. Wie komplex fallen Oerlikons Vorbereitungen darauf aus?

Michael Süss: Für die Division Polymer Processing Solutions führten die wochenlangen Lockdowns in China und die darauf folgenden Markteinbrüche vergangenes Jahr zu negativen Auswirkungen auf das Filament-Geschäft für das 2.Halbjahr 2023 und 2024. Hier gilt es, in diesem und im nächsten Jahr mit einem Rückgang des Bestellungseingang umzugehen.

Was bedeutet das für die Gesamtrechnung?

Wenn das Volumen schrumpft, kommt man nicht umhin, die Kapazitäten anzupassen. Deshalb haben wir einen Personalabbau in der Produktion sowie in der Verwaltung, vor allem in Deutschland und China, beschlossen. Der Abbau entspricht dem erwarteten niedrigeren Umsatzvolumen im zweiten Halbjahr 2023 und darüber hinaus. Um diese Massnahme finanziell abzusichern, hat die Division bereits im vierten Quartal des abgelaufenen Geschäftsjahres eine Rückstellung in Höhe von 50 Millionen Schweizer Franken gebildet, die auch noch weitergehende Massnahmen abdeckt. Wir gehen nicht davon aus, dass wir die volle Summe zu benötigen, wollen aber vorbereitet sein.

Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass wir in den letzten Jahren unser Kerngeschäft in den Non-Filament-Bereich ausgeweitet haben. Das macht die Division im Vergleich zu früheren Abschwung-Phasen widerstandsfähiger.

«Wir stellen uns einerseits auf sinkende Umsätze in unserem grössten Einzelmarkt ein, können andererseits aber mit zusätzlichem Geschäft in den Bereichen Luxus, Automobil und Luftfahrt rechnen.»
Michael Süss, Executive Chairman Oerlikon Group

Beide OC-Divisionen schafften im Jahr 2022 einen rekordhohen Bestelleingang von drei Milliarden Franken. Kann die Division Surface Solutions nicht in den nächsten zwanzig Monaten alles toppen? In den Americas wuchs die Division letztes Jahr um mehr als 20%.

Fakt ist: Die Märkte zeigen aktuell ein eher gemischtes Bild. In der allgemeinen Industrie, beziehungsweise im Bereich Werkzeuge, wo wir insgesamt den grössten Umsatz generieren, wirken sich die makroökonomischen Rahmenbedingungen leider schon seit geraumer Zeit negativ aus. Hier ist mit einem Rückgang des Volumens zu rechnen.

Dagegen sind die Aussichten für den Luxusgütermarkt, in den wir mit den beiden Akquisitionen Coeurdor und Riri eingestiegen sind, überwiegend positiv. Auch in der Automobil- und in der Luftfahrtindustrie, ebenfalls zwei grosse Märkte für uns, stehen die Zeichen auf Wachstum. Das bedeutet, wir stellen uns einerseits auf sinkende Umsätze in unserem grössten Einzelmarkt ein, können andererseits aber mit zusätzlichem Geschäft in den Bereichen Luxus, Automobil und Luftfahrt rechnen.

Für genau diesen komplexen Fall divergierender Märkte haben wir unsere Wachstumsstrategie entwickelt. Der Massnahmenkatalog umfasst zwei Teile. Erstens: Das Kerngeschäft stärken. Das erreichen wir, indem wir unser Portfolio optimieren und bereinigen. Das zweite grosse Massnahmenpaket für Wachstum ist die Diversifizierung. Zum einen verbreitern wir unsere regionale Kundenbasis. Dadurch werden wir resilienter gegenüber lokalen Krisen. Zum anderen diversifizieren wir unser Geschäft. Das können wir, da unser Geschäftsmodell nicht auf einem Produkt beruht, sondern auf Technologiebaukästen, mit denen wir auf völlig unterschiedlichen Gebieten gravierende Probleme unserer Kunden lösen können.

Nach Coeurdor 2021 kam Ende 2022 Riri hinzu. Verbessert diese Akquisition im Luxussegment nochmal die Marge?

Durch die Übernahme von Riri erwarten wir ein zusätzliches Umsatzpotenzial von CHF 100 bis 150 Millionen im Jahr 2023. Und ja, es ist tatsächlich so, dass die EBITDA-Marge von Riri leicht höher als das Margenprofil der Division Surface Solutions ist.

Allerdings werden die Abkühlung der Industriemärkte, die hohe Inflation und die Frage nach gesicherter Energieversorgung Einfluss auf das Geschäft und die Marge haben. Zudem stehen die Engpässe in den Lieferketten in unheilvoller Wechselwirkung mit geopolitischen Spannungen und den regionalen Bestrebungen zu lokaler, protektionistischer Bündelung von Produktion. In Anbetracht dessen erwarten wir für dieses Jahr eine tiefere EBITDA-Marge des Konzerns zwischen 16% und 16,5%, was aber weiterhin auf hohem Niveau ist.

Surface Solutions stieg aus dem Russland-Geschäft aus. Warum war das nötig?

Der Grund waren die gegen Russland verhängten Sanktionen. Am 4. März 2022 hatte Oerlikon in Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine sämtliche grenzüberschreitenden Geschäftsbeziehungen mit Russland eingestellt. In einem abschliessenden Schritt stellte Oerlikon im Juni auch ihre Geschäftstätigkeit innerhalb Russlands ein. Oerlikon traf mit dem Managementteam vor Ort eine Übereinkunft zum Verkauf aller Standorte in Russland. Die Geschäfte werden von den neuen Inhabern unabhängig weitergeführt. Oerlikon beschäftigte 48 Kolleginnen und Kollegen an sechs Standorten in Russland, und der Umsatz belief sich 2021 auf weniger als CHF fünf Millionen.

Das mittelfristige operative EBITDA-Margenziel soll wieder auf 17-19% zu liegen kommen. Was sind die dazu gehörenden technologischen Treiber?

Es gibt zwei Treiber: Erstens stärken wir mit Innovationen und einem noch besser auf die Märkte ausgerichteten Portfolio unsere Kernmärkte. Der zweite Treiber ist unsere Marktdiversifizierung auf Basis unserer Technologien, die, wie Baukästen, nicht nur in angestammten Bereichen eingesetzt werden können, sondern auch helfen, Probleme unsere Kunden in ganz anderen Segmenten zu lösen.

Nehmen Sie als Beispiel die Elektromobilität. Für die Hersteller von Elektro- und Hybridfahrzeugen bieten wir mit unseren thermischen Isolierungen einen deutlichen Mehrwert, weil wir die Fahrgastzellen erheblich besser gegen Batteriebrände schützen können. Es macht nämlich einen erheblichen Unterschied, ob ein Batteriebrand sofort auf den Fahrzeuginnenraum übergreift, oder ob dieser so gut isoliert ist, dass die Passagiere mehrere Minuten Zeit haben, das Fahrzeug zu verlassen.

«Es macht einen erheblichen Unterschied, ob ein Batteriebrand sofort auf den Fahrzeuginnenraum übergreift, oder ob dieser so gut isoliert ist, dass die Passagiere mehrere Minuten Zeit haben, das Fahrzeug zu verlassen.»

Ein anderes Beispiel sind unsere Heisskanalsysteme, die wir durch die Akquisition von INglass ins Portfolio genommen haben, um den Technologiebaukasten unserer Division Polymer Processing Solutions zu erweitern. Mit der Heisskanaltechnik erobern wir ein lukratives Segment im Fahrzeugmarkt, wo der Trend zu funktionalen, Touchscreen-fähigen Kunststoffoberflächen geht. Die Markttreiber dahinter sind der Mobilitätswandel und der allgemeine Trend zur Nachhaltigkeit.

Welche Rolle soll dabei der neue Schweizer Campus Reichhold in Hausen haben?

Unternehmen haben eine Heimat. Die von Oerlikon ist die Schweiz. Durch den Bau des neuen Campus Reichhold in Lupfig/Hausen geben wir einerseits ein klares Bekenntnis für diesen Standort ab. Andererseits optimieren wir Prozessabläufe und steigern die Effizienz. In Reichhold bauen wir auf 14’500 m2 einen hochmodernen Montage- und Produktionsstandort für unsere thermischen Spritzanlagen und unseren Beschichtungsservice. Wir führen hier drei alte Standorte zusammen und schaffen modernste Betriebsabläufe. In Reichold entstehen ausserdem das Verkaufs- und Vertriebszentrum für die Produktlinie Materials sowie das neue Innovationszentrum für Beschichtungslösungen. Die Konzentration auf einen Standort schafft Synergien, verkürzt Prozesse und erleichtert unseren Kunden die Zusammenarbeit mit uns.

«In Reichhold bauen wir auf 14’500 m2 einen hochmodernen Montage- und Produktionsstandort für unsere thermischen Spritzanlagen und unseren Beschichtungsservice.»

Die Beschichtungslösungen von Oerlikon helfen über die ermöglichten Leichtbauweisen und bessere Laufeigenschaften der Endprodukte viel CO2 zu sparen. Gibt es für die OC-Jahresproduktion eine Masszahl für den von allen Kunden eingesparten footprint?

Da wir eine Reihe von Märkten bedienen, die von der Luft- und Raumfahrt bis hin zu Werkzeugen für die industrielle Produktion reichen, ist es sehr komplex und schwierig, die tatsächlichen CO2-Einsparungen unserer Kunden und deren Kunden zu verfolgen.

Wir haben jedoch viele Beispiele dafür, wie unsere Produkte zur Nachhaltigkeit unserer Kunden beitragen. Zum Beispiel unsere Wärmedämmschichten für Brennkammer- und Turbinenkomponenten im heissen Teil von Triebwerken, um deren Betrieb bei höheren Temperaturen zu unterstützen und das darunter liegende Material vor extremen Bedingungen zu schützen. Diese Lösungen tragen dazu bei, dass eine Flotte von der Grösse der A320-Familie täglich bis zu 5 Millionen Liter Treibstoff einspart, was dem Volumen von zwei olympischen Schwimmbecken entspricht und damit circa 11 600 Tonnen CO2-Emissionen reduziert.

Oder unsere technologischen Lösungen für rPET, recyceltes Polyethylenterephthalat, für die Herstellung von Chemiefasern, mit denen unsere Kunden 3,5 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr einsparen können. Weitere Beispiele finden Sie in unseren Nachhaltigkeitsberichten.

«Es ist die Verantwortung des Managements, dafür zu sorgen, dass ein Divisions-Boot im Sturm nicht als Ganzes ins Schlingern gerät.»

Vor 13 Jahren war OC Oerlikon ein Sanierungsfall. Jetzt weisst sie eine Nettoverschuldung zu operativem EBITDA von 0,9 auf. Das ist sehr komfortabel. Warum müssen dennoch über 800 Stellen (vornehmlich in Deutschland) weichen?

Durch unsere erfolgreiche Akquisition von Riri wird sich dieses Verhältnis ändern. Beim Stellenabbau in Deutschland geht es aber vornehmlich darum die Division Polymer Processing Solutions in sichere Fahrwasser zu navigieren. Wie ich vorher schon sagte: Wenn das Volumen schrumpft, kommt man nicht umhin, die Kapazitäten anzupassen. Es ist die Verantwortung des Managements, dafür zu sorgen, dass ein Divisions-Boot im Sturm nicht als Ganzes ins Schlingern gerät.

Wir sprechen im Fall des Textilgeschäfts von ausfallendem Umsatz in einem längeren, nicht überbrückbaren Zeitraum, den wir durch keine anderen Massnahmen abfangen können. Um anders als in der Vergangenheit substanzielle Einbussen der Profitabilität von der Division Polymer Processing Solutions zu vermeiden, war es entscheidend hier rechtzeitig notwendige Massnahmen einzuleiten, denn die Profitabilität ist eine entscheidende Kenngrösse, die über den Zustand eines Unternehmens informiert.

Mittlerweile sitzt Oerlikon auf über 15 Millionen Treasury Shares. Ärgert Sie nach Ablauf des Programms der Einkaufspreis? Welche Ziele können bald einmal mit diesen 4,5% des Aktienkapitals erreicht werden?

Ich glaube an den fundamentalen Wert des Unternehmens, an unsere Strategie und an die Fähigkeit von Oerlikon, mittelfristig stabil und profitabel zu wachsen. Natürlich sind wir vom aktuellen Aktienkurs enttäuscht, aber wir sehen ein erhebliches Kurspotenzial. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Rückkauf eine gute Kapitalverwendung war, da die Barmittel mit Kosten verbunden waren.

Oerlikon konnte die Aktien bereits erfolgreich für die Akquisition von INglass einsetzen. Wir gehen davon aus, dass wir sie mittelfristig wieder als Währung einsetzen werden, wenn wir erneut M&A-Aktivitäten ins Auge fassen.

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