Urs Wälchli, Mitglied der Geschäftsleitung, SVA Aargau, im Interview

Urs Wälchli, Mitglied der Geschäftsleitung, SVA Aargau, im Interview
Urs Wälchli, Mitglied der Geschäftsleitung, SVA Aargau (Foto: zvg)

Von Karin Bosshard

Moneycab.com: Herr Wälchli, wofür hat die Sozialversicherung Aargau kürzlich den Digital Economy Award in der Kategorie Digital Transformation NPO & Government gewonnen?

Urs Wälchli: Die Antragsstellung der Prämienverbilligung im Kanton Aargau ist innovativ und einzigartig, weil Daten von Steuerämtern, Einwohnerkontrollen und Krankenversicherer automatisch zusammengezogen und die Anmeldung in fünf Klicks komplett online gemacht werden kann. Dabei steht der Prozess exemplarisch für den Wandel der Sozialversicherung hin zu einer kunden- und betriebswirtschaftlich-orientierten effizienten Abwicklung.

Sie haben den Preis in der Kategorie Digital Transformation gewonnen. Was genau ist so innovativ an Ihrem Projekt?

Die Sozialversicherung Aargau hat die digitale Transformation mit einem klaren Use Case, dem kompletten Online-Antrag für die Prämienverbilligung, vollumfänglich vollzogen. Die SVA setzt im Rahmen ihrer Transformation konsequent auf eine digitale und vollständige Automatisierung, die den manuellen Eingriff eliminiert. Die nahtlose Verknüpfung von unterschiedlichsten Schnittstellen inklusive elektronischem Datenaustausch wurde dabei vorbildlich umgesetzt.

In einem komplexen und schwierigen Umfeld schaffte die Sozialversicherung Aargau die Umsetzung eines medienbruchfreien Prozesses föderale Grenzen überschreitend mit Einbezug mehrerer Partnerorganisationen, von kantonalen Stellen zu den Gemeinden über eine technische Schnittstelle des Bundes.

«Wir beabsichtigen ein digitales Erlebnis über alle Bereiche der Sozialversicherung mit zielorientierten end-to-end-Kundenprozesse anbieten zu können.»
Urs Wälchli, Mitglied der Geschäftsleitung, SVA Aargau

Was hat die Jury besonders überzeugt?

Besonders überzeugt hat die Jury die Benutzerfreundlichkeit und der hohe Automatisierungsgrad. Beides hat nachweislich einen Mehrwert für alle Beteiligten geschaffen und dadurch eine ausgesprochen breite Akzeptanz erreicht. Im Weiteren hat die Jury überzeugt, dass die Sozialversicherung Aargau den eingeschlagenen Weg intern und extern konsequent weitergehen will.

Der angewandte «outside insight»-Ansatz kann auf die ganze Welt der ersten Säule übertragen werden und zu einer Auflösung der heute bestehenden Silos in der ersten Säule der Sozialversicherung führen. Die Logik der unternehmensweiten digitalen Transformation verbessert einerseits unsere Dienstleistungen gegenüber unseren Kundinnen und Kunden und hilft andererseits die Stückkosten in einer dynamischen Wachstumsbranche der Sozialversicherungswelt zu senken.

Die Sozialversicherung Aargau hat im Herbst 2010 den Chatbot «Maxi» eingeführt, der den Antragsstellenden Fragen rund um die Prämienverbilligung beantwortet. Wie sind Ihre ersten Erfahrungen und wie haben Ihre Mitarbeitenden reagiert?

Unsere Erfahrungen mit Maxi sind sehr positiv. Unsere Erwartungen, wie auch die unserer Partner Previon Plus und PIDAS, wurden bei weitem übertroffen. Wir sind davon ausgegangen, dass wir etwa 10 Prozent Serviceanfragen über Maxi abwickeln können. Effektiv konnte Maxi auf Anhieb über 30 Prozent aller eingehenden Anfragen für unsere Kundinnen und Kunden beantworten, was einen ausgezeichneten Wert darstellt. Da Maxi für unsere Mitarbeitenden viele repetitive Anfragen selbständig beantworten kann, sind unsere Mitarbeitenden ebenfalls begeistert. Die Erhöhung unseres Service Levels in diesem Bereich kennt praktisch nur «Fans», sowohl intern wie auch bei unseren Kundinnen und Kunden.

Wie ist das Feedback Ihrer Kunden?

Das Feedback unserer Kunden ist mit einer Zustimmungsrate von über 90 Prozent ausgesprochen positiv: Maxi wirkt nicht nur als effektiver digitaler Webassistent, sondern kann unseren Kundinnen und Kunden im Regelfall für ihre Anliegen direkt eine Lösung beziehungsweise einen medienbruchfreien Prozessanstoss bereitstellen.

«Die Sozialversicherung Aargau hat im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit im Verlauf eines Jahres mit fast jeder zweiten im Kanton Aargau wohnhaften Person direkt oder indirekt Kontakt.»

Wo lagen die Herausforderungen, welche mit dieser Einführung verbunden waren und welche Herausforderungen erwarten Sie noch?

Eine Hauptherausforderung waren sicher die Zeitverhältnisse, da das Projekt infolge der Rahmenbedingen beziehungsweise anstehenden Aufgaben eine klare Umsetzungs-Deadline hatte, um die gewünschte Wirkung zu erzielen; Roll-out der Prämienverbilligung 2020 im Herbst 2019. Anspruchsvoll war im weiteren die Partnerfindung sowie das Kosten- und Ressourcenmanagement.

Herausfordernd wird die konsequente Weiterentwicklung von Maxi, die rasche Anpassung auf sich verändernde Rahmenbedingungen und Kundenbedürfnisse und die Ausdehnung der Logik auf andere Kanäle und weitere Sozialversicherungsbereiche sein.

Sie haben den Chatbot innerhalb von rekordverdächtigen drei Monaten realisiert. Wie war das möglich?

Folgende Faktoren haben dazu beigetragen, dass wir innert kurzer Zeit dieses Projekt erfolgreich realisieren konnten: Basis bildete eine fundierte Analyse der zur Verfügung stehenden Daten. Darauf aufbauend haben wir mit einer konsequenten Aussensicht die Customer Stories aufgebaut. Flankierend haben wir intern und extern ein Sounding Board eingesetzt, um unsere Arbeitshypothesen und Erkenntnisse kritisch zu überprüfen.

Durch die enge Verzahnung mit unserer Arbeitsorganisation und der eingesetzten Scrum-Methodik konnten wir zusammen mit unseren Partnern innert kurzer Zeit das Projekt realisieren, und dies erst noch mit einem ausgesprochen schnellen ROI.

Sie schreiben in einer Pressmitteilung, dass Sie das digitale Erlebnis in den Fokus rücken wollen. Welche Massnahmen gehören aus Ihrer Sicht nebst einem Chatbot dazu, um maximale Kundenorientierung zu erreichen?

Wir beabsichtigen ein digitales Erlebnis über alle Bereiche der Sozialversicherung mit zielorientierten end-to-end-Kundenprozesse anbieten zu können. Eine noch effizientere Bedienung der Kundenanliegen bei gleichzeitiger Erhöhung des Kundenerlebnisses. Einsatz von neuen Technologien wie KI und auf die jeweilige Lebenssituation adaptierte dynamische Lösungen, die unseren Kunden schnell eine Antwort liefern und sie gleichzeitig optimal entlasten, sind unser Ziel: ganz nach unserem Leitbild «Wir sichern Existenz – rasch, persönlich, wirkungsvoll.»

Ein weiteres Projekt ist im letzten April unter dem Namen „Kooperation Arbeitsmarkt“ gestartet. Wie sieht diese Kooperation aus und wer wirkt mit?

Unter dem Namen «Kooperation Arbeitsmarkt» startete am 1. April 2019 die schweizweit einzigartige Zusammenarbeit der Invaliden- und Arbeitslosenversicherung mit interessierten Gemeinden im Kanton Aargau. Das gemeinsame Ziel lautet, mehr stellensuchende Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren; insbesondere auch Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen. Die «Kooperation Arbeitsmarkt» geht aus dem Pilotprojekt «Pforte Arbeitsmarkt» hervor. 

Mit der Kooperation Arbeitsmarkt treten die institutionellen Grenzen im Kanton Aargau noch weiter in den Hintergrund, wenn Stellensuchende in den Arbeitsmarkt integriert werden. Dank der engen Zusammenarbeit der Invaliden- und Arbeitslosenversicherung können Versicherte und Arbeitgebende zukünftig durch eine einzige Stelle beraten werden; ohne wechselnde Ansprechpersonen.

Der Kanton Aargau geht damit in der interinstitutionellen Zusammenarbeit neue Wege, die weit über die vom Gesetzgeber ursprünglich vorgesehene Zusammenarbeit hinausgehen. Er legt den Fokus auf die betroffenen Menschen statt auf institutionelle Grenzen und nutzt dabei gegenseitig Erfahrung, Wissen und Kompetenzen in der Arbeitsintegration und den Arbeitsplatzerhalt.

«In unserem Geschäftsmodell verbinden wir in einem zunehmend digitalen Umfeld Menschen mit Menschen, Daten mit Menschen und Daten mit Daten.»

Was können Sie uns sonst noch zur Sozialversicherung Aargau sagen?

Bei der Sozialversicherung Aargau arbeiten über 400 motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Dienste der sozialen Sicherheit im Kanton Aargau. Das Unternehmen mit Sitz in Aarau richtet jährlich Leistungen im Umfang von CHF 2.6 Mia. für die Bevölkerung im Kanton aus. Dies entspricht 6 Prozent des Aargauer Bruttosozialprodukts. Die Sozialversicherung Aargau hat im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit im Verlauf eines Jahres mit fast jeder zweiten im Kanton Aargau wohnhaften Person direkt oder indirekt Kontakt.

Wie sehen die mittel- und langfristigen Pläne der SVA Aargau aus?

Das heutige Sozialversicherungssystem hat sich in den letzten zehn Jahren entwickelt und wurde schrittweise ausgebaut. Wir erwarten, dass diese Dynamik erhalten bleibt oder weiter zunehmen wird. In dieser Dynamik wollen wir uns fit machen, um die Zukunft aktiv mitgestalten zu können. Im genannten Kontext setzen wir auf die Themen Dienstleistungsorientierung/Kundenorientierung, Ausbau der Lösungskompetenz und finanzielle Transparenz. In unserem Geschäftsmodell verbinden wir in einem zunehmend digitalen Umfeld Menschen mit Menschen, Daten mit Menschen und Daten mit Daten. Wir befinden uns dabei auf dem Weg zu einem nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen gesteuerten Sozialversicherungsunternehmen und streben nach «best in class».

In unserem strategischen Zielbild leisten wir einen substanziellen Beitrag an die soziale Sicherheit für die heutige und für künftige Generationen. Durch die transparente Darlegung von Fakten, Zusammenhängen und Wirkung, schaffen wir Grundlagen für die Politik, um informierte Entscheide fällen zu können, welche die Interessen künftiger Generationen sichern. Wir verlagern die Mittel von der reinen Durchführung in die Wirkung bei den Versicherten und Kundinnen und Kunden. Wir sind Integrator und erreichen dank unseren professionellen Services, dass Unternehmen, Bund, Kanton und Gemeinden gern Leistungen bei uns beziehen.

Wieso machen Sie das alles?

Wir gehen davon aus, dass das Mengenwachstum im Bereich der sozialen Sicherheit weiter anhalten, der Druck auf die Leistungs- und Durchführungskosten zunehmen und sich die Branche konsolidieren wird. Das Mengenwachstum in unserer Branche wird klassisch mit einer Ausdehnung der Personalressourcen begegnet. Diesen Trend wollen wir brechen und gleichzeitig die Stückkosten mit Mitteln der Automatisierung und Digitalisierung senken.

Was die erwartete Konsolidierung betrifft, wollen wir für zukünftige Opportunitäten und Herausforderungen gerüstet sein und von einem «normalen» Dienstleistungsunternehmen zu einem «herausragenden Dienstleistungsunternehmen im Dienste der Menschen in unserem Verantwortungsbereich, der nachhaltigen Existenzsicherung und der sozialen Sicherheit in der Schweiz werden.

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