Finanzkrise: De facto ein systemischer Bankrott

In seinem einleitenden Exposé kam William R. White zum Schluss, dass die Krise systemisch bedingt sei und forderte die Regulatoren auf, langfristig zu denken. Auf dem Podium diskutierten William R. White, ehemaliger Chef-Ökonom der Bank for International Settlements (BIS), Leonhard Fischer, Co-CEO RHJ International, Joachim Oechslin, Chief Risk Officer (CRO) Munich Re, Raj Singh, CRO Swiss Re, und Tom Wilson, CRO Allianz/Dresdner. Moderiert wurde die Podiumsdiskussion von Janet Kersnar, Chefredaktorin «CFO Europe».


«Geschehnisse können nicht nicht isoliert betrachtet werden»
In seinem einleitenden Exposé betonte William R. White, dass «die Geschehnisse nicht isoliert betrachtet werden können». Als Ursachen der andauernden Krise nannte er vier Faktoren: die starke Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, zunehmende Inflation, zu tiefe Zinsen – und die menschliche Natur. Der Mensch neige dazu, Risiken zu übersehen bzw. komplexe Zusammenhänge überoptimistisch zu vereinfachen. Der Vergleich mit früheren Krisen zeige viele Parallelen auf. Angesichts des Wirtschaftswachstums seien sowohl die Finanzgemeinde als auch private Verbraucher positiv gestimmt gewesen, was wiederum zu höherem Konsum und höheren Kreditsummen geführt habe. Der regulatorische Fokus auf Preisstabilität allein erwies sich jedoch als ungenügend. Im Gegenteil, er habe soviel Liquidität kreiert,  dass schliesslich das ganze System ins Straucheln geriet.


«Nicht Risk Governance hat versagt, sondern System»
White argumentierte, dass nicht die Risk Governance versagt habe, sondern das System an und für sich. Damals bei Enron hätte die Corporate Governance auf insgesamt zehn Ebenen versagt – dies lediglich als Ausdruck von Interessenkonflikten aufzufassen, sei unmöglich. Aufgrund dieser Überlegungen stellte der ehemalige Chef-Ökonom der BIS die grundsätzliche Annahme in Frage, dass der Markt effizient sei. Genau von dieser Annahme gingen jedoch die Regulatoren aus. Es habe in der Vergangenheit viele gute Ansätze gegeben, die jedoch unzulänglich implementiert worden seien. Es bleibe zu hoffen, dass nun das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werde.


Blinder Glaube an mathematische Modelle
Leonhard Fischer, Co-CEO RHJ International und ehemaliger CEO Winterthur, doppelte nach: «Der Markt hatte den absoluten Glauben, dass eine Korrelation aller Asset-Klassen undenkbar sei». Entsprechend habe man auf die Karte Diversifikation gesetzt. Fischer sagte: «Der blinde Glaube an mathematische Modelle ist Teil des Problems, denn solche Modelle sind für die Abbildung menschlicher Interaktion schlicht ungeeignet». Er betonte, dass CEOs in letzter Instanz die Verantwortung für Risiken übernehmen müssten.


Entscheidungsprozesse überdenken
Raj Singh, CRO Swiss Re, unterstrich zwei praxisrelevante Aspekte, denen Risk Manager nachgehen müssten: Wie werden in der Organisation strategische Fragen entschieden? Und welche Rolle kommt in diesem Entscheidungsprozess dem CRO zu bzw. wie unabhängig ist er oder sie? Derzeit würden diejenigen Unternehmen am meisten unter der Krise leiden, die strategische Risiken eingegangen seien, ohne zu wissen, welche maximalen Risiken damit verknüpft seien.


«Déjà-vu»
«Das Ganze ist ein Déjà-vu», konstatierte Tom Wilson, CRO Allianz/Dresden. Man habe es versäumt, aus früheren Krisen zu lernen. Jetzt seien gesunder Menschenverstand und entsprechende Anreizsysteme gefragt. «Solange die Musik spielt, wollen alle tanzen», so Wilson. Die Rolle des CRO sei es, dafür zu sorgen, dass die eigene Organisation unter Umständen sitzen bleibe. «Es gibt Grenzen», betonte Wilson. Derzeit versuchten zwei Sektoren gleichzeitig, den Verschuldungsgrad zu senken: die Banken und die privaten Haushalte. Deshalb werde die aktuelle Krise einen spürbaren wirtschaftlichen Einbruch hinterlassen. Als Beispiel nannte er den Auftragsbestand von Volvo: während im Vorjahr für das 3. Quartal 41’000 Bestellungen für LKWs vorlagen, sind es im dritten Quartal 2008 gerade mal 115.


Ungewissheit miteinkalkulieren
Wilson wies darauf hin, dass die Versicherer – anders als die Banken – seit eh und je auf die nominale Gewichtung zwischen absoluten Risiken und Eigenkapital geachtet hätten. Raj Singh unterstrich in diesem Zusammenhang, dass Versicherer es gewohnt seien, mit Szenarien zu arbeiten, weil Ungewissheit immer einkalkuliert werden müsse. «Im Gegensatz dazu arbeiten Banken mit echten und scheinbar absolut wahren Daten und verlassen sich deshalb stark auf statistische Modelle», so Singh.


Absage an «‹One size fits all»-Lösung
Joachim Oechslin, CRO Munich Re, griff genau diesen Unterschied auf und sagte: «Meine grösste Sorge ist, dass die Politik eine ‹One size fits all›-Lösung verabschiedet – das wäre der absolut falsche Weg.» Oechslin erläuterte im Weiteren die Arbeit des CRO Forums der europäischen Versicherungswirtschaft. Dieses hat in einer Erklärung zur derzeitigen Krise insbesondere auf die Stärkung eines echten unternehmensweiten Risikomanagementprozesses (ERM) hingewiesen, welches mathematische Modelle als Basis, jedoch nicht als Ultima Ratio sieht.


«Wäre eine flache Null für ein Jahr wirklich so schlimm?»
«De facto hat ein privates System seinen systemischen Bankrott erklärt», sagte Leonhard Fischer. Die Regulatoren bzw. die Politik habe jedoch beschlossen, dass das System gerettet werden müsse. William R. White sagte: «Weil Politik und Wirtschaft wachstumshörig waren und unbedingt Null-Wachstum vermeiden wollten, flüchtet man sich in Mergers & Acquisitions. Deshalb haben wir es mit Organisationen zu tun, die zu gross sind, um unterzugehen, und teilweise zu gross, um gerettet zu werden.»  Tom Wilson fragte abschliessend in die Runde: «Warum haben wir solche Angst vor einer Rezession? Wäre eine flache Null für ein Jahr wirklich so schlimm – oder würde sie nicht vielleicht sogar stabilisierend wirken und dafür sorgen, dass wir begreifen, dass ewiges Wachstum unrealistisch ist?»  (heidrick & struggles/mc/ps)

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