Marc-André Giger, CEO santésuisse: «Eine Einheitskasse würde sämtliche Sparanreize abschaffen»

von Patrick Gunti


Herr Giger, mit durchschnittlich 2,2 % fällt die Krankenkassen-Prämienerhöhung 2007 im Vergleich zu den Vorjahren moderat aus. Neben den neuen Reservevorschriften wirkt sich die Kostenentwicklung positiv aus. Wie kommt es zu dieser Stabilisierung der Kosten?


Die moderate Prämienrunde wurde aus zwei verschiedenen Gründen möglich. Auf der einen Seite haben die Preissenkungen bei den Medikamenten und die Förderung von Generika sowie weitere kostensenkende Massnahmen eine positive Auswirkung auf die Kostenentwicklung gehabt, auf der anderen Seite führt die Senkung der Reservevorschriften durch den Bund dazu, dass die Prämien nicht die volle Kostenentwicklung abbilden. Beim zweiten Punkt handelt es sich allerdings um einen einmaligen Effekt, der ? sobald die Reserven abgebaut sind ? verpuffen wird.


Bedeutet dies eine Trendwende bei der Kostenentwicklung?


Nein. Die derzeitige Verschnaufpause bei der Kostentwicklung ist vorab dadurch bedingt, dass die Leistungserbringer ihre Rechnungen nicht immer regelmässig schicken und dadurch die Abrechnungen bei den Krankenversicherern verzögern. Dies ist vorab im ambulanten Spitalbereich zu beobachten. Wie lange die Entlastung bei den Medikamentenkosten wirken wird, ist offen. Generell wurden noch keine Massnahmen getroffen, welche langfristig und nachhaltig Wirkung versprechen.


Die neuen Reservevorschriften bringen eine kleine Atempause. Sobald sich die Reserven den neuen Mindestvorschriften annähern, dürfte die Kostenentwicklung wieder direkt über Prämienerhöhungen nachfinanziert werden. Droht nicht die Gefahr, dass der Politik durch diese Atempause der Druck fehlt, längst fällige Reformen anzugehen?


Es ist eine Chance, die günstige Situation zu nutzen, um endlich nachhaltige Reformen zu beschliessen. Auch in der Politik ist unbestritten, dass Handlungsbedarf besteht.


Welche politischen Massnahmen fordert santésuisse konkret bei der Spitalfinanzierung und der Pflegefinanzierung?


Im Spitalbereich müssen wir wegkommen von der Kostendeckung hin zu einer leistungsorientierten Spitalfinanzierung, welche erlaubt, einen Kosten-Qualitäts-Wettbewerb unter den Spitälern zu etablieren. Wichtig ist dabei, dass die Kantone alle Listenspitäler mitfinanzieren, also auch private Listenspitäler; ansonsten haben wir weiterhin ungleich lange Spiesse und dadurch keine Kostentransparenz.


Die Finanzierung der Alterspflege ist langfristig zu sichern. Dabei erbringt die Krankenversicherung einen grossen Beitrag, der dem heutigen Stand entspricht. Weitere Kosten sind zwischen der öffentlichen Hand (Kantone, Gemeinden), den Patienten und den subjektbezogenen Sozialversicherungen wie den Ergänzungsleistungen und der Hilflosenentschädigung der AHV aufzuteilen.


Im Spitalbereich müssen wir wegkommen von der Kostendeckung hin zu einer leistungsorientierten Spitalfinanzierung, welche erlaubt, einen Kosten-Qualitäts-Wettbewerb unter den Spitälern zu etablieren. (Marc-André Gyger, CEO santésuisse)


Wie sieht es bei den Medikamenten aus?


Die Medikamentenpreise liegen trotz Preissenkungen bei den älteren Medikamenten und Generika immer noch wesentlich höher als in vergleichbaren europäischen Ländern. Insbesondere die Preise patentgeschützter Medikamente sind unverändert hoch. Die Preise in der Schweiz müssen auf europäisches Durchschnittsniveau fallen.


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In einer Umfrage, die von santésuisse in Auftrag gegeben wurde, haben sich 2/3 der Befragten für ein Bonus-Malus-System für billigere Krankenkassen-Prämien ausgesprochen ? wer nicht raucht, sich viel bewegt und gesund ernährt, soll tiefere Prämien bezahlen. Wie stellen Sie sich dazu?


Interessant ist der Umstand, dass viele Versicherte mehr Freiheiten bei der Prämiengestaltung und beim Leistungsumfang wünschen. Diesem Wunsch nach Flexibilität sollte entgegen gekommen werden, beispielsweise indem der heutige Einstiegsmalus von 10% beim Bonussystem gestrichen und dieses bereits existierende Modell gefördert wird.


Sehen Sie andere Möglichkeiten, wie die finanzielle Belastung der einzelnen Versicherten gesenkt werden können?


Die Versicherten können über ihr Verhalten auch selber dazu beitragen, die Kosten im Gesundheitswesen tief zu halten. So gibt es beispielsweise immer mehr Hausarztsysteme und HMOs sowie telefonische Beratungsdienste, welche als erste Anlaufstelle eine umfassende Behandlungsverantwortung übernehmen und die Koordination der verschiedenen Leistungserbringer sicherstellen. Dadurch können unnötige Mehrfachuntersuchungen und Informationsverluste zwischen den Leistungserbringern vermieden und letztlich Kosten gespart werden.


Könnte eine Einheits-Krankenkasse helfen, die Kosten im Gesundheitswesen in den Griff zu bekommen?


Im Gegenteil. Eine Einheitskasse würde sämtlich Sparanreize, die beispielsweise mit den Wahlfranchisen sowie den Hausarztsystemen und HMOs vorhanden sind, abschaffen. Wenn etwas gegen die hohen Prämien unternommen werden soll, muss man das Übel an der Wurzel packen und nicht Symptome bekämpfen. Letztlich werden über 94% der Kosten von den Spitälern, Medikamenten und Ärzten usw. verursacht.


Ein Grundübel am heutigen System ist, dass je mehr medizinische Leistung erbracht wird, desto höher die Vergütung ist. (Marc-André Gyger)


Ob Spitalfinanzierung, Pflegefinanzierung oder Medikamente: Fachleute sind sich einig, dass heute im Schweizer Gesundheitssystem die Anreize falsch gesetzt sind. Teilen Sie diese Meinung?


Ein Grundübel am heutigen System ist, dass je mehr medizinische Leistung erbracht wird, desto höher die Vergütung ist. Damit ist das Gesundheitswesen nach wie vor auf eine Maximalmedizin statt auf eine optimale Versorgung ausgerichtet. Eine Korrektur der finanziellen Anreize ist überfällig.


Ende Oktober geben Sie Ihr Amt ab und wechseln als CEO zu Swiss Olympic. Was für ein Fazit ziehen Sie nach acht Amtsjahren und was wünschen Sie Ihrem Nachfolger Fritz Britt?


Die Komplexität der Fragestellungen, die unterschiedlichen Interessen und die Vielzahl der Akteure machen die Aufgabe als santésuisse-Direktor gleichermassen anspruchsvoll wie interessant und abwechslungsreich. In diesem Sinne wünsche ich meinem Nachfolger viel Befriedigung und Erfolg im neuen Amt.


Herr Giger, wir bedanken uns für das Interview.





Zur Person:
Der 45-jährige Marc-André Giger ist Ökonom (lic.rer.pol) und  seit 1998 Direktor des Branchenverbandes der schweizerischen Krankenversicherer santésuisse. Berufsbegleitend erwarb er sich ein Executive MBA HSG an der Universität St. Gallen. Vor seinem Einstieg bei santésuisse  war er als Wirtschaftsredaktor («NZZ», Cash») sowie als Leiter Corporate Communications beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) tätig. Giger tritt Ende Oktober 2006 zurück und übernimmt die Direktion von Swiss Olympic. Nachfolger von Giger bei santésuisse wird Fürsprecher Fritz Britt.


Zur Organisation:
santésuisse ist der Branchenverband der schweizerischen Krankenversicherer im Bereich der sozialen Krankenversicherung. santésuisse fördert in Politik und Öffentlichkeit das Verständnis für die Krankenversicherung, deren Erfolge und Risiken sowie die Tätigkeiten und Ergebnisse der Branche. Ausserdem fördert die Oganisation die zielgerichtete Zusammenarbeit mit Organisationen und Institutionen, die am Gesundheitswesen beteiligt sind, um gemeinsam Lösungen zu Aufgabenstellungen im Gesundheitswesen zu finden. santésuisse vertritt die gemeinsamen Interessen der Branche gegenüber den schweizerischen Behörden und über die Geschäftsstellen gegenüber den kantonalen Behörden. Zusätzlich formuliert und vertritt die Organisation die Positionen der Mitglieder zu sozial- und gesundheitspolitischen sowie gesellschaftlichen Fragen in Politik und Öffentlichkeit.

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