Roger Köppel: David gegen Goliath

Eigentlich ist es ein Rätsel, warum die Schweiz so reich und so erfolgreich wurde. Das Land hat keine Bodenschätze. Das Gelände ist an manchen Orten unzugänglich. Dünn besiedelt, mangelte es über die Jahrhunderte an guten Arbeitskräften. Da es gleichzeitig zu wenig Arbeit gab, waren die Einheimischen gezwungen, ihr Glück im Ausland, manchmal sogar auf fernen Kontinenten zu suchen. An den Grenzen standen übermächtige Armeen. Die kurzlebigen europäischen Grossmachtträume der Eidgenossen zerstoben nach der vernichtenden Niederlage ihrer Truppen bei Marignano (1515). Dennoch gelang der Aufstieg zu einer der grössten Wirtschaftsmächte des Planeten, zum beneideten Erfolgsmodell, das sich heute wieder einmal unter ausländischem Druck befindet. Wie war es möglich, dass eine Art Steinhaufen im Zentrum des Kontinents eine derartige Karriere hinlegen konnte?


Griechische Hopliten und Beduinenhorden
«Wie David Goliath schlägt ? Wenn Underdogs die Regeln brechen», lautet der Titel eines hochinteressanten Artikels, den der amerikanische Bestsellerautor und Wissenschaftsjournalist Malcolm Gladwell kürzlich in der Zeitschrift The New Yorker publizierte. Gladwell ist ein glanzvoller Reporter und ein origineller Denker, der sich in aufsehenerregenden Texten mit dem Phänomen des Erfolgs beschäftigt. In einer seiner frühesten Reportagen für das Wochenblatt ging Gladwell der Frage nach, warum schwarze US-Sportler in der Regel besser sind als weisse. Den Historiker interessierten weniger soziologische Hintergründe als genetische, und er kam zum überraschenden Befund, dass bestimmte Talente, unter anderem athletische, bei Schwarzen statistisch gesehen viel dichter vorhanden sind als bei Weissen, bei denen allerdings der Begabungsdurchschnitt höher liegt. Den internationalen Durchbruch schaffte Gladwell mit seinem Buch «The Tipping Point». Hier zeigte er anhand von intellektuell erfrischenden Analogien, dass sich Trends bei Produkten, Musikstilen oder politischen Ideen nach dem Muster von Epidemien ausbreiten.


Was genau ist ausschlaggebend, wenn der Aussenseiter den Favoriten schlagen will?
In seiner jüngsten Studie für den New Yorker versucht Gladwell einem der rätselhaftesten Erfolgsgeheimnisse auf die Spur zu kommen. Wie ist es möglich, dass krass unterlegene Parteien weit stärkere Gegner besiegen können? Was genau ist ausschlaggebend, wenn der Aussenseiter den Favoriten schlagen will? Wie können sich Kleinstaaten gegen Grossmächte behaupten? Die Geschichte kennt zahllose Beispiele: Den antiken griechischen Hopliten-Verbänden gelang es in mehreren Gefechten, die numerisch deutlich überlegenen Perser zu vernichten. Der britische Geheimagent und Schriftsteller T. E. Lawrence alias Lawrence von Arabien führte einen wilden Haufen kamelreitender Beduinen gegen eine massiv überlegene ottomanische Streitmacht zum Erfolg. In Vietnam schafften es die schlecht ausgerüsteten Dschungelarmeen des legendären Generals Vo Nguyen Giap, die französischen Kolonialtruppen derart zu zermürben, dass die Vietminh-Soldaten sogar in der offenen Feldschlacht von Dien Bien Phu (1954) einen überraschenden Grosstriumph erzielen konnten. Ein Vierteljahrhundert später jagten die zähen Gebirgsbrigaden der Mudschaheddin nach entbehrungsreichen Abnützungskämpfen die ruhmreiche sowjetische Armee aus Afghanistan. Goliath verzog sich geschlagen und gedemütigt nach Hause.


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