Meret Schneider: Gedanken zum 1. Mai

Es ist der Tag der Arbeit, doch ich werde hier nicht über Ausbeutung von Arbeitskräften, nicht über noch immer existierende Lohnungleichheit, nicht über unbezahlte Care-Arbeit und auch nicht über die Lohnschere, die sich immer weiter öffnet, schreiben.
Wenn ich jeweils meine eigene Rede zum 1. Mai schreibe,lese ich Reden von anderen 1. Mai – Rednerinnen der Vergangenheit, von 2021, 2011, 2005 und bin erstaunt, wie gut ich eine Rede aus 2005 heute halten könnte, ohne dass irgendetwas davon veraltet wirken würde. Es hat sich – leider – nicht viel getan in Bezug auf Chancengerechtigkeit und Lohngleichheit. Zwar haben wir den Pflegenden, den Verkäuferinnen und den Arbeitenden im Obst- und Gemüsebau mittlerweile Systemrelevanz attestiert, sie zwischenzeitlich sogar vom Balkon aus beklatscht, doch politische Konsequenzen haben wir daraus nicht gezogen. Noch immer sind die Arbeitsbedingungen im Pflegesektor so hart und der Lohn so gering, dass uns mittelfristig ein Pflegenotstand droht. Noch immer arbeiten im Obst- und Gemüsebau Menschen körperlich hart für einen Stundenlohn von 18 Franken und noch immer kämpft die alleinerziehende Mutter mit Teilzeitjob um ihre Existenz, weil Care-Arbeit eher als Selbstverwirklichung denn als Arbeit anerkannt wird. Wenig hat sich verändert.
Und doch ändert sich derzeit so unglaublich viel, so unglaublich schnell, dass uns dieser Stillstand kaum auffällt, auch im Arbeitssektor.
Die Globalisierung schreitet voran, Arbeit wird mobil, Arbeitsplätze werden, wenn nötig, outgesourct und verschoben und alle paar Monate tritt ein Populärphilosoph auf den Plan, der uns erklärt, dass uns künftig KI auf dem Arbeitsmarkt komplett überflüssig machen wird.
KI hätte meine 1. Mai – Rede im Übrigen genauso geschrieben: Lohnschere, Prekariat, Care-Arbeit, von Uster nichts Neues. Doch wenngleich die Strukturen gleich zu bleiben scheinen, verändert sich der Modus. Während früher das klare Abhängigkeitsverhältnis von Arbeitgeber zu Arbeitnehmendem und die damit verbundene Ausbeutung beklagt wurde, ist die Situation heute komplexer. Selbstverständlich besteht dieses Verhältnis noch immer vielerorts und darf und muss auch weiterhin thematisiert und politisch bekämpft werden, doch hat das mobile Arbeiten und die Globalisierung unser Verhältnis zur Arbeit stark verändert. Ausgebeutet ist nicht mehr nur, wer morgens um 05:00 Uhr zu einem Minimallohn zur Schichtarbeit erscheint, sondern auch jene, die flexibel im Homeoffice Sonntags um 17:00 Uhr noch eine Mail mit einem Auftrag des Chefs erhält mit dem Vermerk, diesen auf keeeinen Fall noch heute zu erledigen, es sei schliesslich Sonntag, Zwinkersmiley.
Natürlich wird der Auftrag bis spätestens 19:00 Uhr erledigt, man sei ja ohnehin gerade am PC, Zwinkersmiley zurück.
Abhängigkeitsverhältnisse sind heute komplexer, globaler und unübersichtlicher. Sie verstecken sich gern hinter Schlagworten wie “Flexibilität”, “Work-Life-Balance” und werden mit ganz viel Gratis Latte Macchiato mit 3 verschiedenen Milchen zur Auswahl im schicken Co-Working Space mit Tischtennisplatte kaschiert. Klar bleibt man gern noch länger nach Feierabend, erledigt noch den ein oder anderen Task und leistet unbezahlt Überstunden “fürs Team”.
Wer Freitag Abends zusammen zum Apéro geht und dabei das ein oder andere Network optimiert, leistet schliesslich auch gern etwas für den gemeinsamen Purpose und versteigt sich in einem seltsamen Wettkampf der selbstbestimmten Selbstausbeutung, in dem letzten Endes nur der Stärkste weiterkommt. Auch Ausbeutung im Gewand der Selbstbestimmung und geschmückt mit den hippen Anglizismen der Powermillenials ist Ausbeutung. Man mag es belächeln, es als First-World-Problem abtun, aber letzten Endes sind es die gleichen Strukturen, die den gleichen Bevölkerungsschichten ein Weiterkommen ermöglichen – oder eben nicht.
«Auch Ausbeutung im Gewand der Selbstbestimmung und geschmückt mit den hippen Anglizismen der Powermillenials ist Ausbeutung.»
Mit Kind zu Hause lässt es sich nun einmal schlecht Networkapérölen nach Feierabend. Und die Freiwilligkeit, am freiwilligen Team-Grillevent am Wochenende teilzunehmen, darf auch in Frage gestellt werden, wenn frau weiss, dass von diesen Netzwerken und Gesprächen die berufliche Karriere mit abhängt. Aufopferung für den Arbeitgeber wie zu Marx’ Zeiten können wir auch ganz selbstbestimmt, dafür brauchen wir gar keine Industrialisierung und keine knallharten Stempeluhren mehr, dafür reicht ein nonchalantes “Ich weiss, du geniesst gerade deine wohlverdienten Ferien, aber…”
Grenzen setzen, heisst es dann meist. Man muss halt Grenzen setzen. Einfach keine Mails checken am Wochenende. Einfach den Laptop zuklappen nach Feierabend. Einfach Grenzen setzen. Einfacher gesagt als getan in einer Welt der zunehmenden Entgrenzung und Globalisierung der Arbeit, in der im Zweifelsfall outgesourct, wegrationalisiert und umstrukturiert wird.
Unsere Abhängigkeitsverhältnisse werden nämlich auch immer globaler und unkontrollierbarer. Was ein abgedrehter Typ in den USA heute entscheidet, hat morgen Konsequenzen für unseren hiesigen Arbeitsmarkt. Produktionsstätten können umgesiedelt werden in Länder, in denen zu geringeren Kosten produziert werden kann, kreative Arbeit kann von überall aus erledigt werden, was einerseits den Vorteil bietet, beim Reisen arbeiten zu können, andererseits aber auch den Pool potenzieller Arbeitnehmender erweitert und damit die Konkurrenz verschärft. Der Arbeitsmarkt wird volatiler, Fachkräfte werden aus dem Ausland rekrutiert und während einerseits Fachkräftemangel beklagt wird, können sich Studienabgänger kaum mehr sicher sein, nach dem vierten kaum bezahlten Praktikum eine Festanstellung zu finden.
In einer instabilen Wirtschaftslage stellen sich plötzlich Fragen.
Wird mein Unternehmen nun auch im Ausland produzieren? Wird aufgrund der Zölle nun alles teurer? Wie zahle ich Ende Monat meine Rechnungen, wenn dann beispielsweise der Kühlschrank kaputt geht?
Die Sorgen sind gross und mit dem immer weiter werdenden Horizont durch eine Globalisierung, deren Schattenseiten in Form von Abhängigkeitsverhältnissen wir nun gerade empfindlich zu spüren bekommen, droht die Gefahr, den Horizont im direkten Umfeld zu verengen. Wir wissen im Zug von Zürich nach Bern dank Blick aufs Smartphone zwar in Echtzeit, was Trump gerade unterschrieben oder bereits wieder zurückgezogen hat, aber nicht, wer uns im Abteil gegenüber sass.
Wir kennen die Namen der Mächtigen und der globalen Entscheidungsträger und ihrer Entourage, aber nicht jene unserer Nachbarn. Wir reagieren online, in Kommentarspalten und auf Social Media auf jede Entwicklung, auf jede Ungerechtigkeit und jedes Kriegselend mit Wut, Empörung oder Mitgefühl, aber kaum auf die prekäre Lebenssituation einer guten Bekannten.
Die Beschleunigung, die Erosion der Grundfesten der Demokratie, die wir für so stabil gehalten hatten und die Skrupellosigkeit, mit der global agiert wird, lassen uns mit einem Gefühl der Ohnmacht zurück, mit einem Gefühl der emotionalen Ausgelaugtheit. Und wenn wir im direkten Umfeld gebraucht würden, für einen Misstand in der eigenen Gemeinde aufstehen sollten oder jemandem ganz direkt zu Hilfe eilen müssten, bleibt oft nur das Gefühl: Ich kann das alles nicht mehr, ich kann das nicht auch noch. Und dies, obwohl uns genau diese Aktionen in unserem Mikrokosmos, in dem wir uns im Alltag bewegen, aus dieser Ohnmacht befreien würden.
Ich plädiere daher in der aktuellen Situation für einmal für eine Horizontverengung. Damit meine ich nicht die Abschottung von globalen News, keinesfalls den Rückzug ins Private oder die Gleichgültigkeit gegenüber der weltpolitischen Lage.
Ich meine die Rückbesinnung auf den Aktionsradius, in dem wir etwas bewirken können. Und, ich nehme es vorweg: Es ist nicht die Online-Kommentarspalte. Es ist auch nicht die unterzeichnete Online-Petition für den Rücktritt Donald Trumps, die dann an sämtliche Handykontakte weitergeleitet wird mit dem Gefühl, nun doch wirklich etwas getan zu haben. Mit der Senkung des Anspruches an die Grösse unserer Taten wächst die Bereitschaft, tatsächlich etwas zu tun. Wir werden Herrn Trump nicht zum Rücktritt bewegen, Putin nicht zum Abzug der Truppen zwingen und Musk nicht auf den Mond oder meinetwegen den Mars schicken können – zumindest nicht mit einer Online Petition.
Aber die Grundfesten der Demokratie, die um uns herum gerade ins Bröckeln geraten, die Basis unseres Zusammenlebens erstellen wir selber. Das Engagement in Vereinen, der Einsatz in der Gemeinde, die Mitarbeit in einer Organisation für Geflüchtete, Benachteiligte, einfach alle, die mit weniger Privilegien ausgestattet sind, die ganz banale Rücksicht auf unsere Menschen im direkten Umfeld sind die Mikroaktionen, die uns banal und nichtig erscheinen, doch sie bilden das Fundament, auf dem alles andere gebaut wird.
Wir werden dafür weder den Applaus der Öffentlichkeit noch Likes ernten, aber dafür das Gefühl, zumindest im Rahmen der eigenen Möglichkeiten etwas zum Guten zu bewirken. Der Person an der Kasse, der das Geld fehlt, aushelfen, die Aludose im Wald mitnehmen, im Zugabteil Platz machen – all dies wird die Welt nicht retten, aber es sind diese kleinen Verständigungen innerhalb der Gesellschaft, wie wir miteinander umgehen und zusammenleben wollen. Es sind diese kleinen Alltäglichkeiten, auf denen eine wertebasierte Weltordnung letzten Endes basiert und die wir an unsere Kinder weitergeben müssen.
Wir müssen unsere Kinder dazu anleiten, die Schnecke von der Strasse wegzutragen, nicht wegen der Zukunft der Schnecke, sondern wegen der Zukunft des Kindes.
Unsere Demokratie und unser auf Respekt und Rücksicht basierendes Zusammenleben ist keine Selbstverständlichkeit mehr – auch daran muss gearbeitet werden. Nichts hilft so gut gegen globale Ohnmacht, wie lokale Selbstwirksamkeit. Auch das ist Arbeit, aber nichts wird sich so lohnen wie die Arbeit an unserer Demokratie.
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