Arbeitsmarkt: Trotz Fachkräftemangel wird brachliegendes Potenzial nicht genutzt

Arbeitsmarkt: Trotz Fachkräftemangel wird brachliegendes Potenzial nicht genutzt
Oliver Adler, Chefökonom Schweiz der Credit Suisse. (Foto: CS)

Zürich – Die Schweizer Wirtschaft befindet sich in einem Mini-Boom: Das Wirtschaftswachstum 2018 dürfte gemäss den Ökonomen der Credit Suisse mit 2,2 % überdurchschnittlich stark ausfallen. Als Reaktion auf Kapazitätsengpässe wird investiert und Personal eingestellt. Mittelfristig stellen die rückläufige Einwanderung, die demografische Alterung und der zunehmende Fachkräftemangel aber einen potenziellen Bremsfaktor für den Schweizer Arbeitsmarkt und somit für das Wirtschaftswachstum dar. In der heute veröffentlichten Ausgabe des «Monitor Schweiz» zeigen die Ökonomen der Credit Suisse auf, dass es bei Erwerbslosen, Unterbeschäftigten und der weniger bekannten «stillen Reserve», vor allem bei arbeitswilligen Pensionären und Frauen, zusätzliches Potenzial für den Arbeitsmarkt gibt. Ohne markante Änderungen der Arbeitsanreize und der Rekrutierungspolitik von Unternehmen wird die Mobilisierung dieser Potenziale allerdings schwierig bleiben.

Die Schweizer Wirtschaft wird 2018 gemäss Prognosen der Credit Suisse um 2,2 % wachsen und damit deutlich stärker als in den vergangen drei Jahren. Insbesondere die solide Industriekonjunktur wirkt sich positiv auf den Arbeitsmarkt aus. Im 1. Quartal war die stärkste Zunahme der Industriebeschäftigung seit zehn Jahren zu verzeichnen, und die jüngsten Ergebnisse der Einkaufsmanagerbefragung, die Credit Suisse zusammen mit procure.ch durchführt, signalisieren eine weitere Beschleunigung des Beschäftigungswachstums. Eine detaillierte Analyse der Einkaufsmanagerbefragung zeigt zudem eindeutige Zeichen für eine wieder hohe Kapazitätsauslastung: So stiegen die Vorleistungspreise verbreitet an, und es hat selten länger gedauert als heute, bis bestellte Ware eintrifft. «Die hohe Auslastung der Kapazitäten wird die Investitionstätigkeit weiter beleben und den Personalbedarf erhöhen», erläutert Oliver Adler, Chefökonom Schweiz der Credit Suisse.

Hinzu kommt, dass die Unternehmensgewinne im 1. Quartal 2018 abermals zugenommen haben. Der Anteil der Gewinne an der Wirtschaftsleistung ist zwar im historischen Vergleich weiterhin tief, was auf eine nach wie vor herausfordernde Margensituation hindeutet. Die Verbesserung der Gewinnsituation ist aber deutlich sichtbar: Die Unternehmensgewinne haben das Niveau von 2010 bereits wieder übertroffen. Sie sind ein wesentlicher Katalysator der Investitionsausgaben und ihr Anstieg verstärkt entsprechend die Einschätzung der Ökonomen der Credit Suisse, wonach dieses Jahr überdurchschnittlich viel in Maschinen und Ausrüstung investiert werden wird.

Über 800’000 Personen theoretisch an zusätzlicher Arbeit interessiert
Angesicht des dynamischen Beschäftigungswachstums dürfte sich der Fachkräftemangel weiter verschärfen. Die Zahl der offenen Stellen ist denn auch im 1. Quartal gegenüber dem Vorjahr um mehr als 17 % angestiegen. Die bisherige Antwort der Schweiz auf Fachkräftemangel lautete Einwanderung. Wegen des sich abschwächenden Migrationssaldos und der fortschreitenden demografischen Alterung rückt nun aber das bestehende Arbeitskräftepotenzial in den Vordergrund. Das Potenzial scheint gemäss den Ökonomen der Credit Suisse grundsätzlich gross zu sein: Landesweit gaben 837’000 Personen (13,2 % der Wohnbevölkerung zwischen 15 und 74 Jahren, Stand: 2016) in der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung SAKE an, dass sie gerne (mehr) arbeiten würden. Allerdings zählten dazu 238’000 Erwerbslose und 332’000 Unterbeschäftigte und gemäss Einschätzung der Ökonomen der Credit Suisse hat nur ein geringer Anteil dieser Gruppen Chancen auf eine (Voll)beschäftigung. «Der Mismatch zwischen den Qualifikationen dieser Stellensuchenden und der Nachfrage führt auch im flexiblen Schweizer Arbeitsmarkt zu einer gewissen Sockelarbeitslosigkeit», erläutert Adler. «Bessere Chancen auf Mobilisierung sollte es bei der sogenannten stillen Reserve geben – Nichterwerbspersonen, die grundsätzlich ein Interesse an einer Arbeit äussern». Es handelte sich gemäss den Analysen der Credit Suisse um rund 267’000 Personen – zu einem gewichtigen Teil um Senioren und Frauen.

Integration älterer Arbeitskräfte: Fragezeichen auf der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite
Die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmer in der Schweiz ist eigentlich hoch. Wenn Ältere aber einmal aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, haben sie deutlich mehr Mühe, eine neue Anstellung zu finden. Problematisch sind dabei insbesondere das normalerweise höhere Lohnniveau und die hohen Sozialversicherungskosten, die bei älteren Arbeitnehmern anfallen. Bislang setzt gemäss der Credit Suisse KMU-Umfrage von 2017 denn auch erst knapp jedes vierte KMU auf eine Beschäftigung über das gesetzliche Rentenalter hinaus. Auch auf der Arbeitnehmerseite gibt es Hindernisse hinsichtlich der Steigerung der Erwerbsbeteiligung der Senioren: Von allen 66–74-Jährigen äusserten in der SAKE nur knapp 7 % ein Interesse an einer weiteren Beschäftigung. «Ein gewichtiger Teil geniesst wohl den wohlverdienten Ruhestand und stände nur zur Verfügung, wenn die Anstellung inhaltlich wie monetär besonders attraktiv wäre», führt Adler aus. Eine wahrscheinlich wirksame Option, das Potenzial älterer Arbeitskräfte stärker zu nutzen, wäre gemäss Adler eine Heraufsetzung des gesetzlichen Rentenalters. Die Diskussion im Rahmen der gescheiterten Rentenreform 2020 hat aber gezeigt, dass diese Massnahme nach wie vor tabu zu sein scheint.

Frauen: Vereinbarkeit von Familie und Beruf bleibt eine Herausforderung
60 % der verfügbaren, aber nicht arbeitssuchenden Personen sind Frauen. Hier sind vor allem familiäre Verpflichtungen für den Verzicht auf eine aktive Arbeitssuche ausschlaggebend. Und auch wenn vier von fünf Müttern weiterhin erwerbstätig sind, arbeitet die klare Mehrheit mit reduziertem Beschäftigungsgrad. Hindernisse zur Nutzung dieser zusätzlichen Arbeitskräfte stellen gemäss den Ökonomen der Credit Suisse das vielerorts noch ausbaufähige und oft kostspielige Angebot an Krippenplätzen und Tageschulen dar, sowie gewisse verbleibende steuerliche Fehlanreize für doppelverdienende Ehepaare. «Wird die Verbesserung der strukturellen Rahmenbedingungen nur zögerlich umgesetzt, dürfte die stille Reserve am Arbeitsmarkt wohl bis auf weiteres weitgehend ‚still‘ bleiben», so Adler. (Credit Suisse/mc/ps)

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