Das Kunsthaus Zürich zeigt die erste umfassende Werkschau «Lygia Clark. Retrospektive»
Zürich – Mit einer gross angelegten Retrospektive würdigt das Kunsthaus Zürich vom 14. November 2025 bis 8. März 2026 die brasilianische Künstlerin Lygia Clark, eine der bedeutendsten Stimmen der lateinamerikanischen Avantgarde. Die Schau entsteht in Kooperation mit der Neuen Nationalgalerie Berlin und ist die erste umfassende Ausstellung der Künstlerin im deutschsprachigen Raum – und weltweit die grösste seit der Präsentation im MoMA New York 2014.
«If you hold a stone (Marinheiro só) / Hold it in your hand / If you feel the weight / You’ll never be late / To understand». Diese Zeilen aus einem Lied von Caetano Veloso, das 1971 Weltruhm erlangte, beschwören einen einzigartigen Dialog zwischen Musik und Kunst. Veloso, der bedeutendste Vertreter des «Tropicalismo», widmete das Stück der brasilianischen Künstlerin Lygia Clark – einer Pionierin, die den Kunstbegriff radikal erneuerte.
EINE KÜNSTLERIN VON INTERNATIONALER BEDEUTUNG
Lygia Clark (1920 Belo Horizonte – 1988 Rio de Janeiro) zählt zu den prägendsten Kunstschaffenden Südamerikas. Ihr Werk hat Kunstgeschichte geschrieben, weil es die Grenze zwischen Kunstwerk und Betrachtenden auflöste. Clark verzichtete auf klassische Bild- oder Objektformen und entwickelte prozessorientierte Arbeiten, die nur durch die aktive Teilnahme von Menschen entstehen oder vollendet werden konnten.
Ihre Haltung stellte die Institution Museum ebenso infrage wie das Verständnis von Kunst als abgeschlossenes Werk. Clark forderte ein ganzheitliches Erleben, das Körper und Sinne einbezieht und Kunst zu einem offenen Prozess macht.
NEOCONCRETISMO UND DIE ERWEITERUNG DES KUNSTBEGRIFFS
Als Hauptvertreterin des Neoconcretismo, einer 1959 in Rio de Janeiro gegründeten Bewegung, verfolgte Clark seit den 1960er-Jahren konsequent die Idee einer körperbezogenen Kunsterfahrung. Neoconcretismo war ein Verbund von rund zehn brasilianischen Kunstschaffenden, die von den modularkonstruktiven Prinzipien der Gründerfiguren wie Theo van Doesburg und Max Bill ausgingen, sich aber auch davon abgrenzten, indem sie menschliche Intuition über rational-mathematische Prinzipien stellten. Die in Europa von Theo van Doesburg in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg von Max Bill als demokratisches Prinzip verbreitete konkrete Kunst stiess in Brasilien auf fruchtbaren Boden. Mit «demokratisch» ist gemeint, dass Kunst zum Aufbau einer guten Gesellschaft mit unabhängig denkenden Bürgerinnen und Bürgern beiträgt. Auf die Kunst übertragen heisst das, dass jedes einzelne Element (wie Farben oder Quadrate) nachvollziehbar denselben Wert hat wie die einzelnen Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie. Diese Aussage wurde konsequent verbreitet, nachdem realistische Kunst von autoritären Regimen als Propagandainstrument missbraucht worden war.
VOM BILD IN DEN RAUM ZUM KÖRPER
Clark erweiterte zuerst das Bild in den Raum, dann erhielt die Skulptur einen immer stärkeren Körperbezug, bis sie das physisch-objekthafte Kunstwerk in den 1970er-Jahren ganz aufgab. Ihre begeh- und berührbaren Installationen lassen Betrachterinnen und Betrachter bis heute zu aktiven Mitgestaltenden werden.
In dieser Phase ihres Lebens und die nächsten 25 Jahre bis zu ihrem Tode 1988 hat sich Clark der Erkundung von individuellem und kollektivem Körper mit ihrem Kunstpublikum verschrieben. Clark nannte Kunstwerke «proposiciones» (Vorschläge für partizipative Performances), die keine Originale mehr brauchten, sondern vielmehr Handlungsanweisungen waren zur Aktivierung besonders angefertigter Kleider, Masken oder Brillen, die einen Blick auf die Welt ermöglichen, aber auch auf uns selbst. Diesem Prozess ist immer auch die Möglichkeit einer Heilung eingeschrieben, wie Clark es betonte, und reiht sich damit in ein nachhaltiges Interesse des Kunsthauses rund um diese Frage ein. Erstmals in diesem Umfang mit rund 170 Exponaten sind sowohl originale Frühwerke als auch die sinnlich-partizipativen Repliken für Besuchende gleichermassen in einer Ausstellung zu entdecken. Clark selbst sagte: «Für mich ist Kunstschaffen, sich selbst als Mensch zu entwickeln, was überhaupt das Wichtigste ist. Kunst sollte keinem Namen oder irgendeinem Konzept nacheifern.»
Clarks Praxis spiegelte sowohl die Aufbruchsstimmung in ihrem Pariser Exil der 1960er- und 1970er-Jahre als auch die Spuren politischer Unterdrückung in Brasilien wider – hat aber bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüsst. Besonders bekannt sind die Werkgruppen der «Bichos» und «Caminhando». Die «Bichos» bestehen aus beweglichen Metallplatten, deren Gestalt sich erst im Dialog mit den Betrachtenden entfaltet. Clark verglich sie mit lebenden Organismen, deren Wesen sich aus der Interaktion ergibt. Mit «Caminhando» (1963) setzte Clark einen radikalen Schnitt. Inspiriert durch die Auseinandersetzung des Schweizer Multitalents Max Bill mit der Möbiusschleife, entwickelte sie eine Handlungsanweisung, bei der nicht mehr das Objekt, sondern die Handlung selbst das Kunstwerk bildet. «Die Handlung ist das, was ‹Caminhando› produziert. Es existiert nichts davor und nichts danach», schrieb Clark.
Diese Arbeiten verdeutlichen den Bruch mit dem repräsentativen Kunstverständnis und markieren zugleich die Nähe wie auch die Abgrenzung zur Zürcher Konkreten Kunst.
ERSTE WERKSCHAU IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM
Das Kunsthaus Zürich zeigt in Kooperation mit der Neuen Nationalgalerie Berlin die erste Retrospektive im deutschsprachigen Raum und weltweit umfassendste seit jener des MoMA in New York 2014. Sie präsentiert rund 120 historische Originalwerke aus renommierten öffentlichen und privaten Sammlungen in Brasilien, den USA und Europa – viele davon erstmals öffentlich zugänglich. Zusätzlich wurden rund 50 partizipative Arbeiten als Repliken von der Associação Cultural O Mundo de Lygia Clark hergestellt, um Besuchenden die prozessorientierte Dimension unmittelbar erfahrbar zu machen. Die Verbindung von Originalen und prozessorientierten Vorschlägen ist in dieser Dichte einzigartig und logistisch wie auch in der Vermittlung hoch anspruchsvoll.
Die Ausstellung ist im engen Austausch mit der Associação Cultural O Mundo de Lygia Clark entstanden. Eine Ausstellung des Kunsthaus Zürich in Kooperation mit der Neuen Nationalgalerie, Berlin. Kuratorin: Cathérine Hug. Idee und Konzept: Irina Hiebert Grun, Maike Steinkamp.
Eine begleitende Präsentation im Haus Konstruktiv, Zürich (23.10.25.–11.1.2026), kuratiert von Evelyne Bucher, beleuchtet die schweizerisch-brasilianische Verbindung und besonders den Einfluss des Zürcher Konkreten Max Bill.
Unterstützt von der Art Mentor Foundation Lucerne und der Leir Foundation.
Details auf www.kunsthaus.ch/programm.
(Kunsthaus Zürich/mc/ps)