Hilft der Blick auf die Zeiten der Revolution?

Alexander Rodtschenko, Karikatur von Osip Brik, Variante eines Titelbilds für das LEF-Magazin, 1924 Fotomontage, Reproduktion 24,2 x 17,9 cm Privatsammlung © Rodtschenkos Archiv /
Geschichte lernt man in der Schule, um anbahnende Tendenzen des Zeitgeschehens zu erkennen. Glaubt man diesem Credo, so müsste uns die Ausstellung im Fotomuseum Winterthur die Augen öffnen.

Alexander Rodtschenko war ein multimedialer Vordenker. Hinter ihm stand die Erfahrung des Aufbruchs eines gigantischen Staates. Der Staat hatte eine Idee. Die Idee pflanzte sich in die Köpfen, so wie einst das biblische Senfkorn. Einige glaubten mehr an den Fortschritt, an den Power des gemeinsamen Aufbruchs.

Ungeschminkte Wahrheit
An die neuen und ungeahnten Möglichkeiten, die sich damals schier täglich ankündigten wollten sich nicht alle Menschen gewöhnen. Rodtschenko aber hat sich der Zeit angenommen, den althergebrachten Pinsel gegen das «neue technische Monstrum Fotoapparat» eingetauscht. Er hat Bilder geschossen, so wie andere mit Gewehren schossen: für den «Aufbruch in die Moderne». Er wurde beschimpft, er hätte den Leuten die Beine abgeschnitten, die Welt mit einer schiefen Kameraposition aus den Angeln gehoben. Dinge, den man in der Bildherstellung bis anhin nicht kannte, denn die Malerei schnitt weder Objekt an, noch stellte sie Horizonte schief. Malerei bildete die Welt ab. Das «neue technische Monstrum Fotoapparat» hingegen schnitt mit Vorliebe die Dinge entzwei, die sich nicht in den Rahmen bringen lassen wollten. Entsetzen ergriff die Bevölkerung – Entzücken breitete sich in den Gesichtern der aufbrechenden Fotografen aus: denn endlich war es möglich die ungeschminkte Realität einzufangen, sie jedem zu zeigen, so wie sie ist.

Es wurde möglich den Blick der Welt zu führen, ohne diesen langen und verklärenden Weg über den Pinsel.

Doch während die gemalten Bilder nur immer einmal existieren, sind die Fotografien unendlich reproduzierbar. Was dies bedeutete hat Rodtschenko nur zu gut vorausgesehen, denn er hat die Bilder für seine Zwecke eingesetzt. Er hat sie der breiten Bevölkerung zugänglich gemacht. Er hat mit seinen Fotografien eine Mission verfolgt: Revolution.

Alexander Rodtschenko und Warwara Stepanowa, Jungen mit Segelflugzeugfliegern, Skizze für eine Doppelseite des Magazins USSR in Construction, 1933 Karton, Fotomontage
Alexander Rodtschenko und Warwara Stepanowa, Jungen mit Segelflugzeugfliegern, Skizze für eine Doppelseite des Magazins USSR in Construction, 1933 Karton, Fotomontage
41,2 x 60,5 cm Moscow House of Photography Museum © Rodtschenkos Archiv

Es wird wohl dem Betrachter der Ausstellung selbst überlassen sein, den Link in die Gegenwart zu setzen und sich zu fragen: Was will mir diese Ausstellung sage?

Statt ein Abbild der Realität zu sein, wurde Fotografie ein Mittel der visuellen Darstellung geistiger Konstrukte .

httpv://www.youtube.com/watch?v=i29tL-LHyY8&feature=player_detailpage

So hoffen wir, dass der Bildungsreisende auf dem Heimweg von Winterthur sich die Fragen stellt, die sich Rodtschenko auch gestellt hätte an seiner Stelle: Was machen wir eigentlich heute? Wo ist der Aufbruch in eine neue Zeit? Kann man ihn nicht schon längst sehen? Oder bin ich da wo man Rodtschenko antrifft – längst im Geschichtsbuch versorgt?

Stürzende Bilddiagonalen, harte Kontraste, schräge Aufsichten oder Bild-/Textcollagen sind gestaltende Elemente seiner Fotografie.

Die Moderne hat die Fotografie zu sich selbst gebracht. Sie hat sie selbstbewusst gemacht und ihr Selbstvertrauen gegeben. Selbstbewusst, weil die Fotografie in den 1920er Jahren ihre eigenen Möglichkeiten und Qualitäten erkannte und entwickelte: ein forschendes Sehen der Welt, ein Erkunden der sichtbaren Wirklichkeit aus verschiedenen Perspektiven, direkt, klar, von oben, unten, hinten, vorne, aber ohne die Verweise auf den Fundus der Kunstgeschichte. Der russische Konstruktivismus ist wesentlicher Teil dieses grossen Wandels.

Alexander Rodtschenko und Warwara Stepanowa, Soviet Life, Maquette eines Magazin-Titelbilds, 1944 Collage, Silbergelatine-Abzug, Vintage 48,8 x 34,1 cm, Privatsammlung
Alexander Rodtschenko und Warwara Stepanowa, Soviet Life, Maquette eines Magazin-Titelbilds, 1944 Collage, Silbergelatine-Abzug, Vintage 48,8 x 34,1 cm, Privatsammlung
© Rodtschenkos Archiv

Im Jahre 1924 stürmte Alexander Rodtschenko die traditionelle Fotografie mit dem Wahlspruch ‹Experimentieren ist unsere Pflicht!›

Gemeinsam mit seinen Texten bilden die Fotografien noch heute einen einzigartigen Beleg einer ungebrochenen künstlerischen Energie, die sich auch in seinen grafischen Arbeiten spiegelt.

So sind die Nutzer der heutigen Bildverbreitungskanälen wohl die Rodtschenkos unserer Zeit, während wir noch lange das Ende der Fahnenstange verleugnen indem wir die 140 Zeichen, die uns diese Bilder zugänglich machen belächeln.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert