Die Sicht des ehemaligen Raiffeisen Chefökonomen: Föderale Freibeuter

Die Sicht des ehemaligen Raiffeisen Chefökonomen: Föderale Freibeuter
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Weit mehr als zwei Drittel meines Berufslebens lebte ich im Kanton Zürich. Erst in der Stadt, später auf dem Land. Ich konnte mir damals keine eigenen vier Wände in der Stadt leisten und wich drum aufs Land aus. Wie so viele, die im Wohneigentumsboom der Neunzigerjahre in die Agglomeration auswichen. In all den Jahren hatte ich nie den Hang, Steueroptimierung betreiben zu wollen, geschweige denn zu müssen, Standortoptimierung hingegen schon.

Denn als sich unsere private Situation veränderte, drängten sich auch örtliche Veränderungen auf. Meine Frau hatte einige Jahre nach der Geburt unseres Jüngsten die Arbeit wieder aufgenommen und das Pendeln aus dem Zürcher Wehntal nach Luzern, wo sie an der Hochschule dozierte, satt. Und ich die Wehntalerstrasse, eine der befahrensten Kantonsstrassen der Schweiz überhaupt, die zum täglich nervigen Nadelöhr wurde. So verschlug es uns nach Baar im Kanton Zug. Baar ist die steuergünstigste Gemeinde der Schweiz im steuergünstigsten Kanton der Eidgenossenschaft, vor allem liegt sie aber super für ein solches privates Setup. Ich hatte 20 Minuten weniger Wegzeit ins Geschäft und meine Frau ebenso. Dazu stimmte die Rechnung. Das nennt sich Wohnortoptimierung. Noch heute frage ich mich, wieso ich erst so spät dem Kanton Zürich den Rücken kehrte.

Sagen wir’s mal so. Wo wir lebten, waren wir glücklich, unsere Jungs fühlten sich in der Gemeinde wohl und man hatte seine sozialen Kontakte aufgebaut, ein (einigermassen 😉) einvernehmliches nachbarschaftliches Umfeld und eine hervorragende Infrastruktur. Die Jungs gingen Hand in Hand mit ihren Gspänlis zur Schule, eine eidgenössische Idylle eben, und daher bestand kein Bedarf für Veränderung. Im Verlauf des Lebens schreiten aber bekanntlich die Zyklen voran und damit ändern sich die Prioritäten. Das geht vielen, wahrscheinlich fast allen so, nur hatten wir das Privileg, materiell gut gestellt zu sein und die Wahl zu haben.

Anders als mir wirklich Privilegiertem ergeht es nicht wenigen in Baar, Zug, Steinhausen oder Cham, Freienbach, Wollerau und mittlerweile selbst in Sarnen und bald auch mal in Giswil. Sie haben je nach Veränderung der privaten oder beruflichen Konstellation aus rein finanzieller Warte betrachtet keine (andere) Wahl. Steueroptimierung ist für sie als Normalverdiener keine Option, denn was sie an Steuern sparen (könnten), wird ihnen über massiv höhere Wohnkosten abgeschöpft. Sie müssen zwangsweise den Wohnort wechseln, weil erschwinglicher Wohnraum im Steuerparadies für sie nicht mehr verfügbar ist. Auf jedem Quadratmeter Land lassen sich dort im gehobenen Segment oder für Luxuswohnungen viel höhere Renditen erzielen als für erschwinglichen Wohnraum und demzufolge kommt letzterer auch gar nicht mehr auf den Markt.

Die Folge: Der Mittelstand, notabene nicht die Superreichen, ist gezwungen, den steuerlich günstigen Kantonen den Rücken zu kehren, meist ungewollt, weil manche dort geboren wurden, ihre Kindheit verbrachten und somit ihrer Heimat den Rücken kehren müssen. Den Kanton Obwalden möchte ich hier zuletzt erwähnen, weil auch er mit seiner Tiefsteuerstrategie Erfolg hatte. Man stelle sich vor: Obwalden wird jüngster Nettozahler im interkantonalen Finanzausgleich. Ab 2024 zahlt jeder in Obwalden sesshafte Steuerzahler 17 Franken an die finanzschwachen (-schwächeren?) Kantone, dank aggressivem Steuerwettbewerb, den Obwalden seit geraumer Zeit betreibt. Ein einst armer Kanton sponsert nun die Eidgenossenschaft.

Exakt so funktioniert Föderalismus gepaart mit dezentraler Steuerhoheit in der Schweiz. Aber führt das nicht auch zu einem Freibeuterwesen? Könnten die Steuerbarone in Schwyz, Zug, Ob- und Nidwalden ohne Zürich überhaupt überleben? Zürich, das jährlich pro Kopf das 20-Fache an den kantonalen Finanzausgleich abliefert als Obwalden, also immer noch Nettozahler ist, aber an allen Grenzen des Kantons ausgesaugt wird, von den steuerlich günstigeren Kantonen, die aber kaum mehr tun, als immer teureren Wohnraum für die Infrastruktur bereitzustellen?

Man fahre am Morgen auf der A14 (Luzern-Zug), der A4 (Zug-Zürich) oder A3 (SZ – Zürich) Richtung Zürich oder mit der Bahn dieselbe Richtung und man versteht. Die Leute verdienen in Zürich ihr Geld, zahlen aber ihre Steuern in den Oasen. Die A1 (BE/SO/AG/SG/TG Richtung Zürich) ist da keine Ausnahme, nur kommen die Leute da nicht aus Steueroasen zum Arbeiten nach Zürich, sondern aus Regionen, wo der Wohnraum noch erschwinglich ist. Neben dem Freibeuterwesen generiert unser Föderalismus also auch ziemliche Verkehrslawinen.

Vielleicht ziehe ich aus lauter Altruismus wieder in den Kanton Zürich? Und gehe da noch in die Politik? Nicht in die Stadt versteht sich, zu teuer, zu selbstverliebt und zu naiv gegenüber den Freibeutern, dafür offen für Lifestyle und alles sonst noch, was Kosten, aber keine Erträge generiert. Nein, ich ziehe in den Kanton, die eigentliche Wirtschaftsmacht des Kantons Zürich, der mehr als ein Fünftel des Schweizer BIP erwirtschaftet, etwa so viel wie Ungarn nebenbei erwähnt, und beantrage dann den Austritt aus der Eidgenossenschaft gepaart mit einem Beitrittsgesuch zur EU. Damit wäre Zürich zwar Nettozahler, die Freibeuter aber auch schnell mal Pleite. Föderalismus heisst nicht nur, Kompetenzen nach unten delegieren, wo möglich, sondern auch Verantwortung übernehmen, wo nötig. Das scheint einigen hierzulande abhandengekommen zu sein. (Raiffeisen/mc)

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