Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Die Kurve gekratzt

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Die Kurve gekratzt
von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Jeden Tag kreisten damals Helikopter entlang der toskanischen Küste. Mir war lang nicht klar weshalb, bis mich Einheimische aufklärten, dass es sich um Hubschrauber der italienischen Finanzverwaltung handle, die auf der Suche nach illegalen Bauten seien. Wie bitte? In Italien nimmt man es mit behördlichen Auflagen etwas lockerer als sonst wo in der Welt. Schwarzbauten sind tatsächlich eine Art Volkssport.

Eine heimliche Vergrösserung der Wohnung durch das Versetzen von ein zwei Wänden oder durch eine Aufstockung um ein zusätzliches Geschoss gelten auch heute noch als Kavaliersdelikte. 1994 und 2003 erliess Silvio Berlusconi Bau-Amnestien, welche Schwarzbauten über Nacht dem legalen Bestand zuführten. Wahrscheinlich wusste er, dass dies der einfachere Weg ist als ein Abriss, der doch nur auf dem Papier erfolgte. Denn von 16‘500 illegalen Gebäuden, die in den letzten fünfzehn Jahren hätten abgerissen werden sollen, machten offenbar nur mal gerade 500 die Bekanntschaft der Abrissbirne. Wobei auch diese Zahlen wahrscheinlich mit Vorsicht zu geniessen sind. Statistik und Italien, das ist gelebter Antagonismus.

Wir Eidgenossen nehmen es da genauer. Transparenz ist im Land, indem einst selbst Bienen (wäre heute aus bekannten Gründen eigentlich wieder angezeigt) gezählt wurden, die wichtigste Grundlage objektiver Betrachtungen. Zumindest auf dem Papier ist das so. Doch manchmal ist es auch hierzulande schwer, den Überblick zu behalten. Die jüngst veröffentlichten Zahlen zum Schweizer Wirtschaftswachstum im zweiten Quartal des Jahres zum Beispiel werden in drei Monaten bereits wieder Geschichte sein, weil sie dann revidiert werden und dies nicht zum letzten Mal. Bis Herr und Frau Schweizer definitiv wissen, wie stark die Wirtschaft 2019 tatsächlich zugelegt hat, müssen sie sich bis zum Sommer 2020 gedulden. Dann interessiert es sie aber kaum mehr, zumal die dann publizierten Daten immer noch nicht ganz endgültig sind. Der Konjunkturverlauf ist also ein ziemlicher Blindflug, das Tempo oft unbestimmt und man kann schon froh sein, wenn die Richtung einigermassen stimmt.

Leerstand schlägt keine Wellen – nicht mehr!
Gerade ist die Eidgenössische Leerwohnungszählung erschienen, welche nun für jede Gemeinde der Schweiz verfügbar ist. Diese Statistik hat vor einem Jahr in den Medien ziemlich Wellen geschlagen. Und nicht nur das, sie hat gleich auch die Aufseher aufgeschreckt, so dass die sich gemüssigt sahen, den Warnfinger zu heben und den Markt zur Räson zu mahnen. Mit dem Resultat, dass sich die Banken auf eine selbstauferlegte Regulierung bei der Finanzierung von Renditeliegenschaften einigten, die eben erst von der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht gut geheissen wurde.

Die Publikation der Daten vergangenen Montag hat wohl auch deshalb weniger Wellen geschlagen als vor einem Jahr. Die Luft ist längst draussen aus den Zahlen und nachdem schon im Vorjahr von Geisterstädten die Rede war, fiel auch die mediale Berichterstattung recht dünn aus. Dabei bergen die Daten auch durchaus Überraschungen. Zunächst einmal die nackten Zahlen. Am 1. Juni 2019 wurden in der Schweiz 75‘323 Leerwohnungen gezählt, das sind 1,66% des Gesamtwohnungsbestandes, wie es in der Medienmitteilung des Bundesamtes für Statistik heisst. Da überrascht schon mal der eher bescheidene Anstieg gegenüber dem Vorjahr. Die Leerwohnungsquote stieg lediglich von 1,62% auf 1,66%. Auch wenn das fast 5% mehr leerstehende Wohnungen ausmacht, hatten alle mit einem stärkeren Anstieg gerechnet. Und drum passierten die Zahlen die Öffentlichkeit fast unbemerkt. Das ist auch richtig so, denn eine einzelne Statistik sagt viel zu wenig über das Marktgefüge aus. Das Gesamtbild zählt.

Wundersame Vermehrung, unmögliche Interpretation(en)
Zur Berechnung der Leerwohnungsquote muss man nicht nur die am Stichtag leerstehenden Wohnungen im Zähler des Bruches erfassen, sondern auch den Gesamtwohnungsbestand – also den Nenner – kennen. Leider sind weder Zähler noch Nenner über Zweifel erhaben. Immer wieder kommt es vor, dass Gemeinden dem Bundesamt falsche Zahlen liefern, grottenfalsche Zahlen notabene, aus welchen Gründen auch immer. Vor zwei Jahren korrigierte Wangen bei Olten die ursprüngliche Meldung von 10,44% Leerstandquote auf weniger als die Hälfte herunter, was zwar noch immer viel, aber nur ein Unglück, nicht aber eine Katastrophe war. 2013 meldeten Nidwaldner Gemeinden falsche Daten. Dabei ist wohl selten Absicht im Spiel, meist sind die Erhebungen unvollständig und die Methoden unterschiedlich. Soviel zum Zähler.

Der Nenner ist ebenfalls kritisch, denn auch er enthält Unwägbarkeiten und vollzieht mitunter schwer nachvollziehbare Sprünge. Die Veränderungen des Gesamtwohnungsbestandes schwanken massiv. 2017 betrug das Plus 68‘983 Wohnungen, eine wundersame Vermehrung, 2018 „nur“ 48‘669 Wohnungen, also fast 30% weniger. Aktuell, per 2019 werden 59‘404 neue Wohnungen im Bestand ausgewiesen. Die Basis schwankt gehörig, die Zahlen sind demnach mit äusserster Vorsicht zu geniessen. Vor allem dürfen sie nie isoliert betrachtet werden. Nur im Verbund mit Angebotsdaten wie Baubewilligungen und Baugesuchen, Bautätigkeit oder Arbeitsvorrat im Baugewerbe und Nachfragedaten wie Bevölkerungs- oder Einkommenswachstum lässt sich ein einigermassen plausibles Bild fassen. Das sieht dann ungefähr so aus:

Kleines Fazit in fünf Punkten

  1. Im Eigenheimbereich ist Leerstand kein Problem.
  2. Das Angebot überschiesst bei Mietwohnungen, aber nur dort, wo die Nachfrage überschätzt wurde. Namentlich in peripheren Gebieten, die mit viel Phantasie von Investoren zu attraktiven Pendlergemeinden hochstilisiert wurden, in Tat und Wahrheit aber vor allem deshalb gepusht werden, weil es dort noch (erschwingliches) Bauland gibt.
  3. In den tatsächlich gefragten, attraktiven Zentren besteht nach wie vor eine Unterversorgung mit Wohnraum. In den Kantonen Zug, Genf, Obwalden oder Zürich liegt die offizielle Leerstandquote unter 1%. Da muss man fast von Wohnungsmangel, in mancher Stadt gar von Wohnungsnot sprechen.
  4. Der Markt reagiert, die Signale in Form längerer Vermarktungsdauer oder Zugeständnissen bei der Vermietung werden durchaus ernst
    genommen.
  5. Wir sind in keinem Schweinezyklus, aber der Markt reagiert träge und hat einen extrem langen Bremsweg. Zumal er eben erst den Fuss vom Gaspedal genommen hat.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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