Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Sensor der Geldpolitik

Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Sensor der Geldpolitik
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Warum, fragen sich eigentlich fast alle, die im Markt irgendwie tätig sind, investiert die halbe Schweiz trotz historisch tiefer Renditen immer noch in Wohnliegenschaften? In Zürich an vermeintlich bester Lage steht längst keine vier mehr vor dem Komma – brutto wohlgemerkt. Natürlich kann man argumentieren, dass die Alternative, in Bundesobligationen zu investieren, hinfällig geworden ist, seit die Geldpolitik auf Extremkurs ist und so wenigstens Rendite erzielt werden kann. Für Institutionelle mit nachweislichem Nachholbedarf mag das durchaus zutreffen. Ich bin mir aber nicht so sicher, ob es für Privathaushalte ebenso opportun ist, es sei denn, sie verfügen über Erfahrung. Denn viele vergessen, dass es sich dabei um eine höchst komplexe Investition handelt.

Selbstgenutztes Wohneigentum ist hingegen nach wie vor die beste Investition, die man tätigen kann, wenn man nicht schon hat. Das haben inzwischen wohl auch die notorischen Warner einsehen müssen. Jedenfalls hört oder liest man fast gar nicht mehr von der ominösen Blase, die demnächst platzt.

Schnäppchen bleiben rar Wer sich im heute reifen Markt für Wohneigentum entscheidet, wird natürlich keine Schnäppchen finden. Günstig ist Wohneigentum auf keinen Fall – in der historischen Betrachtung und als Folge der tiefen Zinsen. Entscheidend ist und auch heute noch gilt: Selbst bei konservativer Rechenart realisiert man massive finanzielle Einsparungen, wenn man ein vergleichbares Objekt käuflich erwirbt, anstatt es zu mieten. Allmählich wird der Markt auch flüssiger, die Neubau-Pipeline ist prall gefüllt und es entstehen für den oberflächlichen Betrachter Wohnungen zuhauf. Das ist aus Sicht der Wohnraumversorgung wünschenswert. Die Nachfrage ist schliesslich ungebrochen hoch und ein Angebotsüberhang daher unwahrscheinlich.

Es entstehen aber viel zu wenig erschwingliche Mietwohnungen. Aus Sicht des Investors, der einen möglichst hohen Quadratmeterertrag erzielen möchte, ist das nachvollziehbar, führt aber gerade in den Zentren zu absurden Szenen, wenn hunderte Personen für die Besichtigung einer günstigen Wohnung Schlange stehen. Die Bevölkerungsstruktur der Stadt Zürich ohne Wohnbaugenossenschaften wäre mit Sicherheit eine andere als die heutige, fast die komplette Stadt wohl ein Immobilienhotspot. So gut die Wohnraumversorgung der Schweiz gerade in qualitativer Hinsicht sein mag, umso problematischer ist das untere Segment des Marktes, wo latent höchster Mangel herrscht.

Snobeffekte und Verdrängung
Viele «gehobene» Eigentumsobjekte der letzten Jahre tragen stolze Namen. Das sei identitätsstiftend und ist daher ein wenig kritisch hinterfragter Standard im Immobilienmarketing seit Mitte Neunzigerjahre, sagen «Kenner». Garten, Blick, Heimat, Alpen, See und ähnliche Beimischungen bei der Namensgebung suggerieren ein Wohngefühl auf einzigartigem Niveau, meist top und einzigartig. Manche Bauherren veranstalten Vernissagen, um neue Objekte vorzustellen und lobpreisen die Besonderheiten von Architektur und Ausbaustandard. Dort stehen dann allerdings deutlich weniger Leute Schlange, als vor einer einzigartig günstigen Wohnung. Einzigartig günstige Wohnungen zu erstellen, ist in der Schweiz offenbar nicht attraktiv. Bemühungen, dagegen etwas zu tun, verlaufen seit Jahrzehnten ins Leere. Es gibt auch zu wenige «Pioniere», die sich ernsthaft dem Problem annehmen. Hand aufs Herz, Architekten, wer erstellt nicht lieber luxuriös trendige Wohnungen als Plattenbauten?

Dieser Snobeffekt, bei dem eine schier grenzenlose Zahlungsbereitschaft abgeschöpft wird, hat Nebenwirkungen, namentlich die Verdrängung breiter Bevölkerungskreise aus dem gesuchten Zentrum. Leider ist die Wohnraumversorgung ein hochpolitisches Thema und die Lager von Eigentümern und Mietern sind traditionell gespalten, weshalb die politische Agenda auch immer voll von entsprechenden Vorstössen ist, die aber nie dazu beitrugen, den Mietwohnungsmarkt zu verflüssigen.

Sozialer Wohnungsbau
Der Mietwohnungsmarkt in der Schweiz ist – seit ich mich erinnern kann – ein Verkäufermarkt. Wohnraum ist Mangelware, erschwinglicher umso mehr. Während es in Europa zuhauf Länder mit Leerwohnungsziffern von 5 bis 10 Prozent gibt, würden solche Werte die Schweiz in Alarmzustand versetzen. Selbst nach dem grossen Immobiliencrash Anfang der Neunzigerjahre war man davon meilenweit entfernt und die Null vor dem Komma ist an den gefragten Orten in Stein gemeisselt. So gesehen ist nicht nur die Stadt Zürich ein Hotspot, sondern fast der ganze Kanton und die halbe Schweiz. Der Eigentumsboom der letzten Jahre war auch ein Ausweichen der Haushalte vor horrenden Mieten. Da aber immer weniger dazu in der Lage sind, nimmt das Ungleichgewicht am Wohnungsmarkt generell zu. Dank Nullzinspolitik werden wir aber nicht mehr darum herumkommen, das Feld des sozialen Wohnungsbaus ohne Aversion und Berührungsangst zu diskutieren. Denn mit Sozialismus hat das wenig zu tun und im Grunde betreiben etliche Gemeinden heute schon sozialen Wohnungsbau. Nur heisst es dann nicht so, denn er ist nicht «salonfähig». Er wird es aber werden – zwangsläufig, der Geldpolitik sei Dank, sagt uns der Sensor Wohnungsmarkt.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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