Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Warten auf Godot

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Warten auf Godot
Fredy Hasenmaile, Chefökonom von Raiffeisen Schweiz. (Bild: Raiffeisen)

Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Waren sich die Prognostiker noch bis vor Kurzem ziemlich einig, dass den USA eine Rezession bevorsteht, ist diese Sichtweise gehörig ins Wanken geraten. Ob die grösste Volkswirtschaft in eine Rezession abgleitet oder nicht, ist für die Entwicklung der Börsen und Kapitalmärkte weltweit von grosser Bedeutung. Inverse Zinskurven sind historisch gesehen sehr zuverlässige Signalgeber für eine bevorstehende Rezession.

von Fredy Hasenmaile, Chefökonom Raiffeisen

In den 50 Jahren vor Corona ist es nach jeder Inversion der US-Zinskurve immer zu einer Rezession gekommen. Bis diese begann, dauerte es jeweils zwischen 6 Monaten und 2 Jahren. Im Schnitt lag die Zeitverzögerung bei gut 14 Monaten. Seit dem ersten Inversionssignal der Zinskurve im Juli 2022 sind nun bereits 19 Monate vergangen und die amerikanische Konjunktur macht keine Anstalten, in eine Rezession abzutauchen. Vorausschätzungen für das BIP-Wachstum im ersten Quartal deuten auf ein Wachstum hin, das immer noch knapp über der 2-Prozent-Schwelle liegt. Die Arbeitslosigkeit verharrt saisonbereinigt bei tiefen 3,7 Prozent und der Inflationsrückgang wird zwar zäher, hält insgesamt aber an. Die Rezession ist also entweder überfällig oder sie kommt gar nicht mehr. Die amerikanischen Konsumenten zeigen sich jedenfalls trotz höheren Zinsen und steigenden Preisen hochgradig widerwillig, den Konsum einzuschränken. Das Warten auf die US-Rezession verkommt daher immer mehr zu einem Warten auf Godot. Einem Warten, das nie endet.

Die Resilienz der US-Konjunktur ist bemerkenswert und hat mindestens sechs Gründe. Erstens konnten die Haushalte während der Pandemie Überschussreserven bilden, von denen sie bis heute zehren. Wiederholt wurden dabei die Überschussersparnisse der amerikanischen Haushalte unterschätzt und mussten nach oben revidiert werden. Zweitens verzögert sich die Transmission der höheren Zinsen im Vergleich zu früheren Zinserhöhungszyklen. Amerikanische Unternehmen und Haushalte nutzten die extreme Tiefzinsphase von vor der Corona-Pandemie, um sich langfristig zu tiefen Zinsen zu finanzieren. Daher sind deutlich mehr Unternehmen und Haushalte als früher noch immer geschützt vor hohen Zinsen. Drittens stützen hohe Staatsausgaben beziehungsweise eine ausserordentlich expansive Fiskalpolitik der US-Administration die Wirtschaft. Aufgrund von strukturellen Ungleichgewichten sowie spektakulären Konjunkturprogrammen wie dem Chips Act, der Infrastructure Bill oder dem Inflation Reduction Act liegt das US-Haushaltsdefizit derzeit bei hohen 6,3 Prozent – ohne Aussicht auf baldige Abkehr von diesem nicht nachhaltigen Kurs. Die starke Förderung der Halbleiterproduktion wie auch der Dekarbonisierung lösen zudem Produktionsverlagerungen nach Amerika aus, welche Folge¬investitionen nach sich ziehen und damit noch länger Auftrieb geben werden. Der diesbezügliche Rückenwind für die Konjunktur wird möglicherweise unterschätzt, zumal ein Teil der Förderung auf Steuergutschriften für Investitionen in erneuerbare Energien beruht, deren Ausmass erst in künftigen Haushaltsungleichgewichten sichtbar werden wird.

Oftmals hatten in früheren Zinserhöhungszyklen die Immobilienmärkte einen gewichtigen Anteil an den darauffolgenden Rezessionen. Einerseits weil heftige Preiskorrekturen die Vermögen der Haushalte reduzierten und diese sparsamer werden liess, andererseits weil sowohl die Nachfrage als auch darauffolgend die Bautätigkeit einbrachen. Solches ist viertens derzeit nicht zu beobachten. Eine jahrelange Unterproduktion von Wohneigentum dürfte noch auf Jahre hinaus für knappe Verhältnisse auf dem US-Wohnungsmarkt sorgen, so dass Preiskorrekturen sehr unwahrscheinlich sind. Im Zuge erwarteter Zinssenkungen zeigt der Wohnimmobilienmarkt sogar zunehmend Anzeichen einer Wiederbelebung. Die Stimmung in der Immobilienbranche hat sich klar verbessert. Hypothekaranträge und Hauspreise ziehen wieder an und markieren eine Trendwende im Hauspreiszyklus. Auch dies ist ein Signal, dass die Rezession diesmal ausfallen könnte. In der Vergangenheit erfolgte die Trendwende am Immobilienmarkt erst tief in der gesamtwirtschaftlichen Rezession oder sogar erst danach.

Auch wenn es beispielsweise am Gewerbeimmobilienmarkt immer wieder rumort, präsentiert sich die grösste Volkswirtschaft in einer guten Verfassung, ohne gravierende Ungleichgewichte, wenn man mal vom verhängnisvollen langfristigen Schuldentrend absieht. Dank anhaltend dynamischer Lohnerhöhungen sowie gesunkener Inflationsraten dürfen sich die US-Haushalte im Jahr 2024 fünftens über einen Anstieg der Kaufkraft freuen. Dies macht zusammen mit den Aussichten auf baldige Leitzinssenkungen die Haushalte zuversichtlicher, so dass auch der Konsum weiterhin eine Stütze der amerikanischen Konjunktur bleiben dürfte. Der Konsum profitiert sechstens von der aktuell hohen Zuwanderung. Ein Effekt, den wir auch in der Schweiz beobachten können. Weitere Vorlaufindikatoren lassen ebenfalls nicht auf eine baldige Rezession schliessen.

Die Chancen stehen also tatsächlich gut, dass es in den USA zu keiner Rezession kommt. Doch aufgepasst, das Risiko, dass sie verzögert doch noch eintritt, ist nicht gleich null. Geldpolitische Straffungen benötigen Zeit, um sich durch das System zu arbeiten. Die Tiefzins- und die Pandemieperiode haben möglicherweise diesen Verzögerungseffekt verlängert. Die Historie von 50 Jahren korrekter Antizipation ist respekteinflössend und sollte nicht so einfach vom Tisch gewischt werden. Die Tatsache, dass nun plötzlich die meisten Ökonomen von ihrer Rezessionsprognose Abstand nehmen, nachdem sie eine solche irrtümlich für 2023 vorhergesagt haben, trägt ebenfalls nicht unbedingt zur Zuversicht bei, sondern sollte uns wachsam halten. (Raiffeisen/mc)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert