Was Schlammlawinen gefährlich macht

Was Schlammlawinen gefährlich macht
(Screenshot YouTube)

Murgänge sorgen immer wieder für Tod und Verwüstung. Ein Forschungsteam hat diese Ströme aus Wasser, Erde und Geröll nun mit grösster Präzision ausgemessen. Die Studie zeigt bisher ungeklärte Faktoren, die die Zerstörungskraft von Murgängen bestimmen – und hilft damit, Schutzmassnahmen zu ergreifen.

Die Bergstürze in der Walliser Gemeinde Blatten Ende Mai 2025 oder beim Bündner Dorf Brienz im Juni 2023 haben das Gefahrenpotenzial von Erdrutschen in den Alpen in Erinnerung gerufen. Eine Form dieser Bedrohung sind auch Murgänge. Diese Ströme aus Wasser, Feinmaterial und Felsbrocken treten typischerweise nach starken Regenfällen in steilem Gelände auf und bewegen sich schnell eine Rinne hinunter. Dabei zerstören sie oftmals alles in ihrem Weg.

Im letzten Jahr sorgten grosse Murgänge unter anderem in Sorte (GR), Fontana (TI) und im Saastal (VS) für Aufsehen. In Erinnerung ist auch der Bergsturz von Bondo (GR) im August 2017, dem ein Murgang folgte, der sich 100 Meter breit durch das Bondasca-Tal wälzte. Acht Menschen starben damals.

Solche Schlammlawinen ereignen sich an exponierten Stellen immer wieder, im Abstand von Monaten oder Jahren. Wissenschaftler:innen nutzen diese Tatsache, um Naturereignisse in Gebieten mit häufigen Murgängen live zu beobachten.

So waren Forschende der ETH Zürich und der WSL vorbereitet, als sich am 5. Juni 2022 im Illgraben oberhalb der Walliser Gemeinde Leuk ein Murgang löste und sich 25’000 Kubikmeter Material vier Kilometer durch das Bett des Illbachs ergossen, bevor der schlammige Strom auf der Höhe von Susten in die Rhone mündete. Mit mehreren Messstationen verfolgte das Team von Wissenschaftler:innen das Naturereignis.

Oben im Tal beobachtete es an der Spitze des Murgangs eine zwei Meter hohe und schnell vorrückende Front, die Felsblöcke von bis zu einem Kubikmeter Grösse enthielt. Weiter unten im Tal war der Schlammstrom langsamer, allerdings traten an der Oberfläche immer wieder schnelle, mächtige Wellen auf (siehe Video). Während des halbstündigen Murgangs zählten die Forschenden 70 solcher Wellenschübe.

Schübe entstehen spontan
«Man weiss seit langem, dass diese Schübe eine zentrale Rolle für die Zerstörungskraft von Murgängen spielen», sagt Jordan Aaron, Professor für Ingenieurgeologie am Departement für Erd- und Planetenwissenschaften der ETH Zürich. «Denn Schübe machen den Strom besonders mächtig und schnell.» Laut Aaron waren die physikalischen Prozesse, die zur Entstehung der Schübe führen, bisher kaum bekannt. Dank den Messungen rund um den Murgang vom Juni 2022 und einer darauf aufbauenden Modellierung wissen die Forschenden nun besser Bescheid: «Wir konnten nachweisen, dass die Schübe spontan auf der Oberfläche des Stroms entstehen. Sie rühren von kleinen Unebenheiten, die im Verlauf der Zeit anwachsen und dabei grösser und schneller werden, bis sie ihre maximale Zerstörungskraft erreichen.»

Diese Erkenntnis steht im Zentrum einer Studie, die ein Team um Aaron gemeinsam mit Forschenden der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL und der Universität Manchester verfasst hat. Die Studie wurde soeben in der Zeitschrift «Communications earth & environment» veröffentlicht. «Unsere Analyse liefert neue Erkenntnisse über die Dynamik von Murgängen und ermöglicht mittelfristig ein verbessertes Gefahrenmanagement», sagt Aaron. Die Gefährlichkeit eines Murgangs wird nämlich massgeblich durch die Zerstörungskraft der Schübe definiert.

Auf der Grundlage der aktuellen Studie könnte in Zukunft abgeschätzt werden, ob Schübe bei einem Murgang zu erwarten sind und welche Zerstörungskraft sie haben. Daraus lässt sich ableiten, welchen Kräften Hausmauern oder Brückenpfeiler in einem Gefahrengebiet standhalten müssen. Auch könnten darauf aufbauend Schutzmassnahmen wie Dämme oder Auffangnetze dimensioniert werden.

Hochaufgelöste Messungen
Der Illgraben oberhalb von Leuk ist bekannt dafür, dass dort jedes Jahr mehrere Murgänge abgehen. Seit 2000 ist das Tal mit Messinstrumenten ausgerüstet, welche die Eigenschaften von Murgängen in ihrer natürlichen Umgebung aufzeichnen. Die Erkenntnisse aus der neuen Studie wurden aber erst möglich, nachdem das Ereignis vom Sommer 2022 mit bisher einzigartiger Präzision ausgemessen werden konnte.

Dies geschah mit Hilfe von hochpräzisen 3D-Laser-Scannern, sogenannten Lidars. Diese Geräte zur Bestimmung von Abstand und Geschwindigkeit wurden ursprünglich für selbstfahrende Autos entwickelt. Im Juni 2022 hielten fünf Lidar-Scanner und sechs Hochgeschwindigkeits-Videokameras den Murgang im Illgraben fest (siehe Video). An drei Messstellen wurde die Oberfläche des Schlammstroms mit einer räumlichen Auflösung von 2 cm und einer zeitlichen Auflösung von 0.1 Sekunden detektiert. Daraus liessen sich Mächtigkeit und Geschwindigkeit des Murgangs errechnen.

Dank der Messdaten konnten die Forschenden eine Hypothese über die zugrundeliegenden physikalischen Prozesse ableiten und ein numerisches Modell entwickeln. Dieses mathematische Modell wird genutzt, um das Fortschreiten des Schlammstroms realitätsnah nachzubilden (siehe Video unten).

Felsbrocken beeinflussen Strömungsdynamik
Aus den Messdaten konnten die Forschenden auch ableiten, dass grosse Felsbrocken die lokale Strömungsdynamik stark beeinflussen. «Dieses Phänomen ist in den meisten bisherigen Vorhersagen zu Murgängen nicht enthalten», sagt Aaron. «Indem wir diese Effekte nun im Feld beobachten und messen können, erhalten wir eine präzisere Beschreibung und ein besseres Verständnis dieser Naturvorgänge.» (ETH/mc/pg)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert