Zwischen Freiheit und Eifersucht: Das Phänomen offener Beziehungen

Zwischen Freiheit und Eifersucht: Das Phänomen offener Beziehungen
Dr. Francesca Miccoli promovierte mit einer Arbeit über die rechtliche Anerkennung polyamorer Familien aus rechtsphilosophischer Sicht. (Foto: Universität Basel, Maria Patzschke)

Heute leben immer mehr Menschen in offenen Beziehungen. Dr. Francesca Miccoli hat ihre Doktorarbeit über die rechtliche Anerkennung von Polyamorie geschrieben. Im folgenden Interview spricht sie über diese Form der Liebesbeziehung.

Von Helena Zumsteg, Universität Basel

Francesca Miccoli, was sind offene Beziehungen?

Die Bezeichnung offene Beziehungen steht für eine bestimmte Form der ethischen, einvernehmlichen Nicht-Monogamie. Dies ist ein Überbegriff, der alle Arten von nicht dyadischen Konstellationen einschliesst, bei denen alle Beteiligten damit einverstanden sind, sich nicht zur Monogamie zu verpflichten und eine ehrliche und offene Kommunikation zu vereinbaren. Dies kann sowohl vergnügungsorientierte Lebensstile wie Swinging als auch eher romantische Beziehungen wie polyamore Beziehungen umfassen. Das gemeinsame Merkmal ist, dass die Beteiligten die Freiheit haben, mit dem Bewusstsein und der Zustimmung aller Beteiligten andere Partner zu haben. Die Beziehungen sind also einvernehmlich und ethisch vertretbar, weil sie sich vom Betrügen unterscheiden. Der Begriff der offenen Beziehung bezieht sich in erster Linie also auf die Freiheit zweier Partner in einer romantischen Beziehung, sexuelle Kontakte mit anderen Personen zu haben. Polyamorie hingegen erlaubt es Menschen, mehrere romantische Beziehungen mit verschiedenen Personen gleichzeitig einzugehen.

Sind offene Beziehungen ein neues Phänomen?

Es scheint, als würden Polyamorie und offene Beziehungen immer mehr an Bedeutung gewinnen, insbesondere bei jüngeren Generationen. Sie sind eher bereit, traditionelle Normen in intimen Beziehungen in Frage zu stellen und nach Lebensstilen zu suchen, die am besten zu ihnen passen, ohne sich unbedingt an einen bestimmten traditionellen Lebensstil zu halten. Leider gibt es keine aussagekräftigen quantitativen Studien über die Verbreitung der ethischen Nicht-Monogamie in der Bevölkerung. Diese Art von Beziehungen wird jedoch immer häufiger sichtbar. Heutzutage befassen sich neben der akademischen Forschung auch viele Mainstream-Fernsehserien, Podcasts, Selbsthilfebücher und Zeitschriftenartikel mit diesem Thema. Infolgedessen probieren die Menschen diese Beziehungsformen selbst aus oder sind zumindest neugierig, was es damit auf sich hat. Gleichzeitig gibt es aber auch immer noch viele Menschen, die diesen nicht-traditionellen Beziehungen sehr kritisch gegenüberstehen, insbesondere solche mit eher konservativen Ansichten.

«Es gibt einen Trend zu mehr Freiheit in der Gestaltung von Familienbeziehungen – so, wie wir sie wirklich wollen, nicht auf der Grundlage von Traditionen.»

Francesca Miccoli

Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für diese Entwicklung?

Mit der zunehmenden Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Beziehungen in der Gesellschaft, die in der Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe zum Ausdruck kommt, sind die Menschen in Bezug auf ihre Sexualität freier als früher. Ganz allgemein sind die Menschen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts offener für unkonventionelle Beziehungen geworden. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Scheidungen in der Vergangenheit illegal waren, während sie heute auf dem Vormarsch sind. Indes nimmt die Zahl der Eheschliessungen ab, und die Menschen können nun zusammenleben, den Partner wechseln, sich scheiden lassen und aussereheliche Kinder bekommen, ohne gesellschaftlich stigmatisiert zu werden. Es gibt also einen Trend zu mehr Freiheit in der Gestaltung von Familienbeziehungen – so, wie wir sie wirklich wollen, nicht auf der Grundlage von Traditionen – und polyamore und offene Beziehungen sind Teil davon. Das bedeutet, dass wir immer weniger an traditionelle Erwartungen und Vorstellungen gebunden sind. Dating-Apps und soziale Medien haben es auch einfacher gemacht, in kurzer Zeit viele Menschen kennenzulernen und mit Gemeinschaften von Menschen in Kontakt zu treten, die unserem bevorzugten Lebensstil eher zugeneigt sind.

Ist der Mensch von Natur aus eher monogam oder polyamor?

«Natur» ist ein heikles Wort. Denn was meinen wir mit «natürlich» oder «Natur»? Gibt es etwas «Natürliches» in der Art und Weise, wie wir unsere Familien und gesellschaftlichen Beziehungen gestalten? Ausserdem gilt es in der philosophischen Forschung als Irrtum zu behaupten, dass ein bestimmtes Phänomen nur deshalb gut ist, weil es «natürlich» ist. Um Ihre Frage zu beantworten, würde ich sagen, dass die Monogamie in erster Linie kulturell bedingt ist. Zum Beispiel war es eine weit verbreitete Meinung, dass Frauen «von Natur aus» eher zur Monogamie neigen als Männer, aber diese Meinung wurde von der Wissenschaft weitgehend in Frage gestellt. Wäre Monogamie natürlich bedingt, könnte dies auch nicht die hohe Fremdgehquote erklären. Aus philosophischer Sicht gibt es einige Erklärungen dafür, warum die Menschen irgendwann in der Geschichte begannen, ihre Gesellschaften monogam zu gestalten. Friedrich Engels zufolge hängt dies beispielsweise eng mit dem Konzept des Privateigentums und der Vererbung zusammen: Die Menschen wollten sicher sein, dass die Kinder, die ihren Reichtum erben, biologisch ihre Kinder sind, und die Monogamie, insbesondere die der Frauen, war der einfachste Weg, dies zu erreichen. Natürlich gibt es viele gegensätzliche Theorien zu diesem Thema, aber das Beispiel soll zeigen, wie umstritten eine Behauptung wie «Monogamie ist natürlich» ist.

Was bringt Menschen dazu, eine offene Beziehung zu führen?

Untersucht man die Merkmale und Prinzipien der einvernehmlichen Nicht-Monogamie, so wird deutlich, dass eines ihrer Hauptmerkmale die Fluidität und Flexibilität ist– mit anderen Worten, die Freiheit zu experimentieren. Das sind Schauplätze, an denen Menschen etwas anderes und für sie passenderes ausprobieren können, vielleicht weil sie mit der Monogamie unzufrieden sind oder weil sie einfach sehr offen für unkonventionelle Lebensstile sind. Wenn man nur einen Partner hat, kommt man manchmal auf die Idee, dass dieser eine Partner alle Bedürfnisse befriedigen muss. Dieser Partner soll dann Ihr Begleiter, Liebhaber, Freund, Reisebegleiter, Mitelternteil, Ihr alles sein. Das ist viel für eine einzige Person. Jeder Mensch hat viele verschiedene Bedürfnisse und Wünsche, die eine Person nicht immer erfüllen kann. Menschen in einvernehmlichen, nicht monogamen Beziehungen neigen dazu, die Befriedigung ihrer Bedürfnisse bei verschiedenen Partnern zu suchen. Sie können mit ihnen Intimität, Liebe, Bindung oder einfach nur Sex teilen, und zwar in unterschiedlichem Masse.

Was schafft Vertrauen und Stabilität in offenen Beziehungen?

Grundlegende Prinzipien einvernehmlicher, nicht monogamer Beziehungen sind Ehrlichkeit, Empathie und offene Kommunikation. Wenn Menschen ehrlich zueinander sind und in der Lage sind, Grenzen zu setzen, Regeln und Einschränkungen zu kommunizieren und die Bedürfnisse des anderen zu respektieren, dann entsteht Stabilität, auch wenn die Beziehung selbst fliessend ist, weil mehr Menschen beteiligt sind. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass mehr Menschen zu Instabilität führen.

Erleben Menschen in offenen Beziehungen auch Eifersucht?

Eifersucht ist ein weit verbreitetes Gefühl unter polyamoren Menschen. Auf der Grundlage der Prinzipien von Empathie, Ehrlichkeit und offener Kommunikation bemühen sich Menschen in komplexeren Beziehungen jedoch in der Regel, an sich zu arbeiten, um zu verstehen: Warum bin ich eifersüchtig, und wie kann ich daran arbeiten? Wie kann ich aufhören, mich von der Eifersucht überwältigen zu lassen? Etwas von dieser Arbeit können wir auch in unsere monogamen Beziehungen mitnehmen. Schliesslich ist Eifersucht ein normales Gefühl, das wir alle kennen und erleben.

«Offene Beziehungen lehren uns, uns unserer Bedürfnisse und Grenzen in einer Beziehung bewusst zu sein.»

Wo sehen Sie bei diesen Beziehungsmodellen die grössten Chancen und Risiken?

Offene Beziehungen lehren uns, uns unserer Bedürfnisse und Grenzen in einer Beziehung bewusst zu sein. Wenn dieses offene Beziehungsmodell für Sie funktioniert, haben Sie die Chance, viele verschiedene Arten von tiefen und bedeutungsvollen Beziehungen aufzubauen. Sie erweitern das Netz der Menschen, denen Sie wichtig sind, und bereichern Ihr Leben. Ein kritisches Risiko ist jedoch die soziale Stigmatisierung. Zudem kostet es viel Zeit und Energie, intime Beziehungen mit vielen Menschen gleichzeitig zu führen. Auch sollten offene Beziehungen nicht idealisiert werden, denn nicht alle Menschen, die eine solche Beziehung führen, arbeiten an sich und ihren emotionalen und kommunikativen Fähigkeiten. Aber auch wenn es vielleicht nicht für jede und jeden passt, glaube ich, dass eine solche ethisch nicht monogame Beziehung uns lehren kann, bewusster und verantwortungsvoller mit unseren Beziehungen umzugehen.

Werden sich diese Beziehungsprinzipien in Zukunft weiter verbreiten, und werden sie schliesslich rechtlich anerkannt?

Das kann ich nicht vorhersagen. Einerseits sind, wie bereits erwähnt, die jüngeren Generationen viel flexibler und offener für sexuelle und beziehungsbezogene Experimente als die älteren, und die einvernehmliche Nicht-Monogamie gewinnt in den Mainstream-Medien immer mehr an Sichtbarkeit. Andererseits sind auch konservative politische Parteien auf dem Vormarsch; viele Menschen haben immer noch sehr konservative Einstellungen. Betrachtet man den Weg zur rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen, so stellt man fest, dass eine grössere Sichtbarkeit in den Medien und in der Politik zu einer zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz führte, die schliesslich in der rechtlichen Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe in den meisten westlichen Ländern mündete. Ich würde erwarten, dass es auf lange Sicht wahrscheinlich genauso mit der Mehrehe oder einem ähnlichen Rechtsinstrument sein wird. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg: Es gibt keine politische Bewegung nicht-monogamer Menschen, die ihre Rechte einfordert, wie es bei der LGBT+-Bewegung der Fall war. Die extreme Rechte ist wieder auf dem Vormarsch, und die Nicht-Monogamie ist immer noch nicht ausreichend gesellschaftlich akzeptiert, um auf eine rechtliche Anerkennung zu hoffen. Dies ist ein Problem für alle, die in solchen Beziehungen leben und keinen rechtlichen Schutz geniessen. (Universität Basel/mc/ps)

Universität Basel

Dr. Francesca Miccoli studierte Rechtswissenschaften an der Universität von Bologna. Sie promovierte 2022 in Politikwissenschaften an der Universität Mailand mit einer Arbeit über die rechtliche Anerkennung polyamorer Familien aus rechtsphilosophischer Sicht. Zurzeit arbeitet sie als Postdoc am Departement für Philosophie der Universität Basel im Rahmen des Projekts «Just Parenthood. Die Ethik und Politik der Kindererziehung im 21. Jahrhundert».

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