Aktienmarkt Grossbritannien: Brexit-Chancen oder Milliardengrab?

Aktienmarkt Grossbritannien: Brexit-Chancen oder Milliardengrab?

Von Martin Raab, Derivative Partners AG, www.payoff.ch

Die Briten wollen endgültig aus der EU. Die Aktienkurse in London haben sind nach dem Brexit-Schock erstaunlich gut wiederbelebt. Kann die neue Regierung um Theresa May das Inselreich fit für die Zukunft zu machen? Oder droht Grossbritannien nun endgültig der wirtschaftliche Untergang? Wie sich Anleger jetzt positionieren sollten.

Überraschend kühle Morgenluft durchzog die britische Metropole London am 24. Juni. Bereits vor Sonnenaufgang deutete sich an, dass dieser Freitag eines der grössten politischen Erdbeben in Grossbritannien innerhalb der letzten 50 Jahre auslösen wird. 51,9% der Briten stimmten für den Austritt aus der Europäischen Union. Die Stimmung gegenüber dem Kontinent fiel frostig aus, mit einem Brexit hatte nur die Minderheit gerechnet. Völlig auf dem falschen Fuss wurden viele Anleger erwischt, honorige Leitindizes wie der DAX sackten aus dem Stand fast 1‘000 Punkte in sich zusammen. Die Panik wurde nicht kleiner, als Premierminister David Cameron in der Morgensonne vor seinem Londoner Amtssitz seinen Rücktritt ankündigte. Der «Black Friday» des 24. Juni 2016 hat schon jetzt seinen Platz in den Wirtschaftslexika. Doch mittlerweile hat sich die Panik gelegt, die Volatilitäten wieder eingependelt. Daher ist der Zeitpunkt jetzt günstig, die Folgen der historischen Entscheidung für den Anlagestandort Grossbritannien in Ruhe zu analysieren. Aus politischer Sicht wurden bereits wichtige Entscheidungen getroffen: Die bisherige Innenministerin Theresa May wurde von Königin Elizabeth II. zur neuen britischen Premierministerin ernannt. Auf die 59-jährige Vorsitzende der britischen Konservativen wartet eine wahre Herkulesaufgabe. Sie muss das Brexit-Votum umsetzen und dabei in den Verhandlungen mit der EU das Bestmögliche für ihr Land herausschlagen – mission impossible?

Kein Untergang, aber auch kein Boom

Noch ist offen, wann Grossbritannien den Austritt formell in die Wege leitet. Auch die ökonomischen Folgen für das Inselreich stehen völlig in der Schwebe. Einzelne britische Grossunternehmen wie der Telecom-Konzern Vodafone hegen bereits Umzugspläne – nach Dublin oder Berlin. Ob diese dann auch tatsächlich Realität werden, ist derzeit noch offen. Schon vor dem Brexit-Votum zeichnete der Internationale Währungsfonds (IWF) ein verhaltenes Szenario für die drittgrösste Volkswirtschaft Europas: 2016 soll das Wachstum das zweite Jahr in Folge nachgeben (siehe Grafik). Umso wichtiger ist es, dass die May-Administration rasch Lösungen für die zukünftige Positionierung auf dem alten Kontinent findet. Mark Haefele, Anlagechef im UBS Wealth Management, könnte sich vorstellen, dass Grossbritannien ein Abkommen im Sinne des Europäischen Wirtschaftsraumes, vergleichbar mit der Position Norwegens, aushandelt.

«Vodafone hegt bereits Umzugspläne – nach Dublin oder Berlin.»

Das skandinavische Land zählt zu den EFTA-Mitgliedsstaaten, welche mit der EU eine Freihandelszone betreiben. «Wenn es dazu kommt und die Pläne bald angekündigt werden, sollte das etwas Klarheit für Unternehmen, Investoren und Konsumenten in Grossbritannien bringen», stellt der UBS-Experte fest. Noch ist die britische Volkswirtschaft robust unterwegs. Wie das allerdings in fünf Jahren aussieht, lässt sich heute freilich nicht seriös abschätzen.

Pfund Sterling in Richtung Parität

Anders als von Marktbeobachtern erwartet, kam von der Bank of England (BoE) zunächst keine zusätzliche Hilfe. An ihrer ersten Sitzung nach dem Referendum beliess sie den Leitzins bei 0,5%. Allerdings stellten die Währungshüter bereits für den August eine Lockerung in Aussicht. Nick Kounis, Volkswirt bei ABN Amro, rechnet mit einem aggressiven geldpolitischen Stimulus. «Wir erwarten eine Zinssenkung um 25 Basispunkte und ein Anleihenkaufprogramm über GBP 150 Mrd. zwischen September 2016 und Juni 2017», so der Head Macro & Financial Markets Research. Obwohl das Pfund im Anschluss an die BoE-Sitzung Boden gutmachte, ist es wenig wahrscheinlich, dass die britische Valuta die jüngsten Verluste komplett aufholt. Nach dem Referendum war sie in Relation zum US-Dollar auf den tiefsten Stand seit mehr als drei Jahrzehnten gefallen. Andere Marktteilnehmer sehen das Pfund auch weiterhin auf Abwegen. «Der 5-Jahres-Chart des Pfunds gegenüber Euro und US-Dollar sieht desaströs aus und der 1-Jahres-Chart genauso. Entsprechend gehen wir im GBPEUR von einem Leveltest bis auf 1.15 oder sogar 1.10 in nächster Zeit aus», hört man von einem alternativen Trading-Desk in Zürich. Nach unbestätigten Angaben aus der FX-Szene gibt es sogar gewisse Marktkräfte, die auf eine mittelfristige Parität zwischen Pfund-Euro hinarbeiten. Das gab es knapp im Krisenjahr 2008 zuletzt.

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Diversifizierte Länderbenchmark

Die international agierenden britischen Grosskonzerne können also bis auf Weiteres mit Rückenwind von der Währungsfront rechnen – eine ernste Aufwertung des Pound Sterling ist nicht zu erwarten. Im jüngsten Kursverlauf des FTSE 100 Index kommt diese These bereits deutlich zum Ausdruck. Zwar reagierte der wichtigste Börsengradmesser des Inselreichs mit deutlichen Abschlägen auf den Brexit.

«Der Leitindex FTSE100 ist gespickt mit Unternehmen, die den Grossteil ihrer Umsätze ausserhalb des UK erwirtschaften.»

Mittlerweile konnte er die Verluste jedoch weit mehr als aufholen. Damit hat die auch als «Footsie» bezeichnete Benchmark den Euro Stoxx 50 im 5-Jahres-Vergleich überholt, während er gegenüber SMI und DAX Boden gutmachen konnte (siehe Grafik). Der Leitindex ist gespickt mit Unternehmen, die den Grossteil ihres Geschäfts ausserhalb des Heimatmarktes erwirtschaften. Beispiel British American Tobacco (BAT): Weniger als 2% seiner Gesamterlöse verbuchte der Zigarettenhersteller 2015 in Grossbritannien. Mit BP und Royal Dutch Shell zählen zwei führende Energiemultis zu den zehn Schwergewichten des FTSE 100 Index. Insgesamt bringt es die Öl & Gas-Branche auf einen Anteil von mehr als 12%. Lediglich der Konsumgütersektor ist ähnlich stark gewichtet (siehe Grafik). Vor diesem Hintergrund halten wir die Benchmark für gut geeignet, diversifiziert auf die britischen Large Caps zu setzen. Neben dem schwachen Pfund sollte den Konzernen von der Insel die solide Verfassung der Weltwirtschaft in die Hände spielen. Hinzu kommt eine attraktive Dividendenrendite von mehr als 4%. Fünf verschiedene Anbieter sind derzeit mit einem Exchange Traded Fund (ETF) auf den FTSE 100 an der SIX vertreten. Grössenmässig ragt dabei der passive Indexfonds ISF von iShares heraus. Aktuell verwaltet der Branchenkrösus umgerechnet mehr als CHF 5 Mrd. in diesem Produkt.

Strukturiert von den besten UK-Aktien profitieren

Während dieser ETF bereits kurz nach der Jahrtausendwende an den Markt kam, reagierte Julius Bär mit dem Tracker-Zertifikat DZDAJB auf die jüngste Entwicklung. Dem Produkt liegt ein Post Brexit Basket zugrunde, für dessen Zusammensetzung das Researchteam der Privatbank verantwortlich zeichnet. Die Analysten haben ihr britisches Aktien-Universum auf mögliche Brexit-Folgen hin abgeklopft. Probleme kommen demnach auf die Hersteller von zyklischen Konsumgütern sowie auf Banken, Immobiliengesellschaften und Bauunternehmen zu. Keinen wesentlichen negativen Einfluss erwarten die Experten dagegen für die meisten britischen Basiskonsumgüterunternehmen, Versorger sowie Pharmakonzerne. «Einige davon könnten sogar vom Währungs-Rückenwind profitieren», stellt Patrik Lang, Head of Equity Research bei Julius Bär, fest. Genau hier setzt das Basket an. Es enthält sieben Unternehmen, denen die Pfund-Abwertung zugutekommt und die zudem von Julius Bär ein «Buy»-Rating erhalten. Durch dieses Raster schafften es ARM Holdings, BAT, Compass Group, Imperial Brands, Intertek Group, Reckitt Benckiser und WPP. Positiv: Während der zweijährigen Laufzeit anfallende Dividenden werden in das Basket reinvestiert.

«Grösster Risikoparamter Post-Brexit-Orbit scheint Hitzkopf Boris Johnson.»

Wer bevorzugt auf Barrier Reverse Convertibles (BRCs) als defensives Investmentvehikel setzen möchte, hat sich bislang eher mit einer überschaubaren Auswahl an schlauen Produkten begnügen müssen. Für smarten Nachschub sorgte kürzlich Vontobel. Die Privatbank lancierte das in GBP denominierte Renditeoptimierungsprodukt RBPADV auf die BP-Aktie. Bei einer Laufzeit von rund 13 Monaten macht der Ölmulti einen garantierten Coupon von 5,26% p.a. möglich. Bezüglich der vollständigen Tilgung des Nominals verfügt der zuletzt sowohl vom steigenden Ölpreis als auch vom Brexit befeuerte Basiswert über einen Risikopuffer von 30%.

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Vielversprechende Wette für ambitionierte Trader

Etwas ganz Besonderes rund um die «Post-Brexit»-Thematik hat man sich einmal mehr bei der Derivatschmide Leonteq Securities einfallen lassen. Die Produktentwickler lancierten eine Long/Short-Strategie als Antwort auf den Brexit-Entscheid. Mit dem Mini Future-Zertifikat CHILTQ können Anleger gehebelt auf eine Outperformance des FTSE 100 Index gegenüber dem FTSE 250 Index wetten. Hinter dem Produkt verbirgt sich die von so manchem Analysten vertretene Ansicht, dass die Werte aus der ersten Reihe der Londoner Börse besser mit den Folgen des EU-Austritts zurechtkommen als die stärker auf den Heimatmarkt fokussierten Small und Mid Caps. Manchen klein- und mittelständischen Unternehmen droht über kurz oder lang ohne Binnenmarktzugang in die EU die Puste auszugehen. Kurzfristig ging das Kalkül auf, der FTSE 100 schnitt seit dem Referendum deutlich besser ab als der FTSE 250. Gleichwohl bringt diese Struktur stattliche Risiken mit, weshalb sie aktiven und erfahrenen Anlegern vorbehalten bleiben sollte. Mit Blick auf die nächsten Wochen gilt es sich jetzt zu positionieren. Generell die grössten Chancen auf ein nachhaltiges Überleben haben die in Grossbritannien domizilierten Konzerne mit starkem Auslandsgeschäft. Deren Cashflows dürfen sich auch in Zukunft trotz frostiger werdenden Dialogen zwischen Brüssel und London nicht existenzbedrohend abkühlen. Grösstes Risiko im Post-Brexit-Orbit scheint derzeit eher der neue Aussenminister des Vereinigten Königreiches, Boris Johnson, zu sein. Der in New York gebürtige US-britische Doppelbürger gilt als Hitzkopf. Vielleicht nutzt Johnson ja nun die Nähe seines neuen Amtssitzes für morgendliche Joggingrunden im St. James Park, um sich etwas abzukühlen.

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