Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Null wie nix

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Null wie nix
von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Am 15. September 2008 wurde mit der Pleite von Lehman Brothers Geschichte geschrieben. Nicht nur, weil es den Höhepunkt der Finanzkrise markierte und eine grosse US-Investmentbank Konkurs anmelden musste, sondern Geschichte vor allem deshalb, weil dieses Ereignis eine neue Ära einläutete, die noch heute unser tägliches Leben bestimmt. Die Ära der geldpolitischen Improvisation.

Seit zehn Jahren haben die Währungshüter die Wirtschaft fest im Griff, aber im Grunde haben sie überhaupt nichts im Griff. Die Idee, dass tiefe Zinsen die Wirtschaft ankurbeln, steht im Lehrbuch. Doch was bei null passiert und ob es danach durch weitere geldpolitische Aktionen tatsächlich Impulse für die Wirtschaft gibt, behaupten zwar viele „Prominente“, die Praxis hat es bis heute aber nicht bewiesen. Es ist wie wenn sie einem Auto laufend Öl und Benzin einfüllen, das aber trotzdem keinen Wank macht, weil es nicht der Treibstoff ist, sondern der Motor, der verhindert, dass sich das Gefährt bewegt. Anstatt den Motor zu überprüfen, wird aber weltweit nichts als geschmiert und geschmiert. Die USA haben durchaus einen beachtlichen Konjunkturaufschwung hingelegt, haben sich den aber einiges kosten lassen. Die Bilanz der amerikanischen Zentralbank ist zwar nicht (mehr) so aufgebläht, wie diejenigen der EZB oder vor allem aber der Bank of Japan und der Schweizer Nationalbank. Aber für die heutige Reife des Konjunkturaufschwungs ist die Geldpolitik noch immer expansiv, vor allem nachdem Zinserhöhungen bis auf weiteres vom Tisch sind.

Urbi et orbi
Als junger Analyst in einer Bank gehört das Central Bank Watching zu den wichtigsten Aufgaben. Man hängt dabei förmlich am Tropf der Notenbankchefs oder besser an ihren Worten und hofft richtig zu interpretieren, was sie mit ihren Äusserungen meinen und dies adäquat zu antizipieren. Oft gehen die Meinungen zwischen verschiedenen Finanzhäusern auseinander, da vieles von dem, was uns die Notenbankhüter erzählen, erst dann wirksam wird, wenn wir es auch richtig verstehen. Deshalb sind die Notenbanken in ihrem Wording auch so vorsichtig, um nicht zu sagen undurchsichtig. Hinter der vermeintlichen Komplexität der Materie versteckt, lassen sie nur verklausuliert durchblicken welche Schritte sie als nächstes planen. Der resultierende Interpretationsspielraum ist oft so gross, dass sich hierüber die Gemüter scheiden. Denn es geht schon lange nicht mehr „nur“ um Zinssenkungen oder Zinserhöhungen, längst ist das Repertoire der Notenbanken zu einem Strauss von Massnahmen angeschwollen, die die eigentliche Politikrichtung immer undurchsichtiger machen. Die Geldpolitik ist zur Glaubensfrage geworden, man glaubt an ihre Wirksamkeit oder nicht. Doch der Glaube allein kann keine Berge versetzen, auch wenn uns das die Notenbanken vorspielen. Der Papst als Hüter des Glaubens von vielen Menschen setzt mit seinem „urbi et orbi“ auf die gleiche Karte. Entweder man glaubt an den Segen oder nicht. Die Finanzindustrie glaubt fest an ihn, schwört auf die expansive Geldpolitik, denn so ist genug Liquidität für finanzielle Abenteuer vorhanden. Doch sonst haben viele den Glauben verloren, dass diese Geldpolitik der Welt tatsächlich gut tut.

1.09
Anfang Jahr lag der Schweizer Franken bei gut 1.14 CHF pro Euro. Fast alle prognostizierten zum Jahresende einen deutlich stärkeren Euro und ich wurde belächelt, weil ich es anders sah. Gestern tauchte der Euro erstmals wieder unter die 1.10 CHF. Dabei unternimmt die SNB alles, um genau dies zu verhindern. Erst blähte man die Bilanz mit milliardenschweren Stützkäufen auf, liess das dann wieder fahren und kämpfte seitdem mit Negativzinsen gegen ein Bollwerk der Angst und Panik, das um einiges stärker ist als die abschreckende Wirkung negativer Zinsen. Obwohl der Franken so unattraktiv wie möglich gemacht wird, ist er nach wie vor als sicherer Hafen gesucht. Wenn er weiterhin aufwertet, ist das auch nicht weiter tragisch für die Investoren, denn deren Rechnung geht sogar dann noch auf. Und doch hält unsere Notenbank am Negativzinsregime fest, das ihr Einnahmen in Milliardenhöhe verschafft, die bei anderen als Ausgaben zu Buche schlagen. Kredit gibt es heute fast umsonst, dafür aber auch nichts mehr für ihr Erspartes. Doch wohin mit dem vielen Geld, wenn die Realwirtschaft nicht so richtig vom Fleck kommt? In den Immobilienmarkt, in Aktien, in Rohstoffe oder Edelmetalle. An diesen Märkten ist das Gratisgeld gern gesehen, denn damit lässt sich auch umsonst spielen. Doch ist dies ein Nullsummenspiel, das die Wirtschaft nicht voranbringt. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis wir Gebühren für unsere Geldeinlagen entrichten müssen. Heute schon erhalten gute Firmenkunden das Geld von den Banken gratis, nur damit diese nicht noch Negativzinsen entrichten müssen. Das System ist aus den Fugen geraten. Ja, jetzt wäre es ökonomisch ratsam, das Geld auszugeben, doch wofür sollen das Konsumenten in einer weitgehend gesättigten Volkswirtschaft tun? Wäre es nicht längst an der Zeit, die Geldpolitik zu ändern, vor allem die Negativzinsen abzuschaffen. Denn es steht zwar so nicht im Lehrbuch, aber vielleicht würgen die die Wirtschaft ja noch schlimmer ab als zu hohe Zinsen. Doch der irrsinnige Glaube stirbt wohl nie! (Raiffeisen/mc/ps)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert