Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Ob die Vernunft siegt?

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Ob die Vernunft siegt?
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Am vergangenen Montag knabberte der Schweiz Marktindex SMI an seinem Allzeithöchst von 9530 Punkten, drehte dann aber wieder nach unten ab. Am gestrigen Montag nun gab der Schweizer Leitindex weiteres Terrain preis und tummelte sich in bester Gesellschaft im Mittelfeld der europäischen Märkte, die alle kräftig Federn lassen mussten. Auch in den USA schnupperte der Dow Jones nur kurz die Höhenluft von über 18‘000 Punkten, schaffte es aber zum wiederholten Mal nicht, sich dort zu halten. In China kam es nach dem schwindelerregenden Höhenflug sogar zu einer ziemlich unsanften Landung. Gestern erlitt die Börse in Shanghai einen crashähnlichen Kurszerfall von 8.5%. Seit 2007 ist die dortige Börse an einem Tag nicht mehr dermassen eingebrochen. Der Absturz in China liess gestern auch die Kapitalmärkte beben. Deutsche und eidgenössische Staatspapiere waren sehr gefragt, Öl und selbst Gold wurden aber gemieden. Die Angst ging mal wieder um. Irgendwie scheint der Elan – mit ganz wenigen Ausnahmen – draussen zu sein aus den Börsen. Wie so oft im Sommer.

Es sieht derzeit in der Tat nicht danach aus, dass die Börsen ihren nun schon gut sechs Jahre dauernden Aufstieg im bisherigen Tempo fortsetzen. Das ist aber gar nicht ungewöhnlich, denn die Erwartungen der Märkte waren die vergangenen Jahre stets ambitiös, ohne dass es zu allzu starken Korrekturen kam, wenn die hochgesteckten Erwartungen einmal nicht erfüllt wurden. Seit März 2009 kannte der Markt praktisch nur eine Richtung, auch oder weil er sich stets in geldpolitischer Sicherheit wähnte. Selbst die Schuldenkrise 2011/12 in Europa wurde dank der EZB nicht zum Spielverderber der Börsenhausse. Die Aktienmärkte setzten dort auf breiter Front zu einer Aufholjagd an, nachdem Mario Draghi versprochen hatte, alles zu unternehmen um das Überleben des Euros zu sichern. Bis das kleine Griechenland erneut eine Zäsur der Märkte herbeiführte. Und seitdem ist irgendwie der Wurm drin. Kein Wunder muss man dazu sagen. Es scheint als ob Vernunft einkehrt an den Märkten. Nicht dass die heutigen Kurse vollends ungerechtfertigt wären. Für weitere Kursavancen braucht es aber neue Munition. Doch die scheint den Märkten auszugehen.

Geldpolitik erschöpft
Da ist zunächst die Geldpolitik, deren Potenzial als Katalysator der Kurse global ausgeschöpft scheint. Dies gilt exemplarisch auch für China, wo sich die chinesische Notenbank vielleicht sogar gezwungen sehen könnte, die Aktienmärkte noch diese Woche mittels Käufen von Wertpapieren zu stabilisieren. Wie in Europa übernimmt die Geldpolitik aber auch dort „lediglich“ die Rolle der Absicherung nach unten und nicht die eines Beschleunigers. Auch wenn die Kurse nach unten angesichts der Alternativlosigkeit von Aktieninvestments einigermassen abgesichert scheinen, ist nach oben deshalb eindeutig weniger Luft.

Improvisation geduldet
Im Weiteren ist da Europa. Die Märkte haben die Tatsache, dass man sich im Falle Griechenlands auf die Variante eines weiteren Durchwurstelns geeinigt hat, zwar mit Erleichterung zur Kenntnis genommen, mehr aber nicht. Die Euphorie darüber ist längst verflogen. Denn dass die europäische Politik mit ihren laufenden Improvisationen einen gehörigen Gesichtsverlust in Kauf genommen und der Stabilität der Eurozone vielleicht sogar einen Bärendienst erwiesen hat, haben die Märkte auch zur Kenntnis genommen. Es dürfte zwar nur eine Frage der gekauften Zeit sein, bis sich die Finanzmärkte wieder mit Hellas beschäftigen. Doch immerhin ist der Blick des Marktes nun wieder etwas weiter in die Zukunft gerichtet ist, als bis zum nächsten Gipfeltreffen in Brüssel. Jetzt muss sich zeigen, dass die Avancen der letzten Monate und die heutigen Kurse gerechtfertigt waren und sind. Das wird sich im Sommer kaum herausstellen. Die Unternehmen müssen in Europa jedenfalls gut nachlegen, um die heute eingepreisten Erwartungen nicht zu enttäuschen. Dies gilt für die Schweiz ganz besonders, wo sich bisher wechselkursbedingte Einbussen etwas stärker in den Quartalsabschlüssen niederschlugen, als erwartet worden war.

Amerikanische Vernunft
Und dann wäre da noch Amerika, das im laufenden Jahr zwar nie richtig im Rampenlicht der Finanzmärkte stand, aber dennoch das zukünftige Marschtempo vorgibt, besser gesagt die amerikanische Notenbank. Die zögert nun schon ein ziemliches Weilchen, erstmals wieder seit einer gefühlten Ewigkeit an der Zinsschraube zu drehen. Wenn sie dies im September nicht tut, läuft ihr allerdings zusehends die Zeit weg, denn der amerikanische Konjunkturzyklus ist schon so weit fortgeschritten, dass es bald zu spät dafür sein könnte. Etliche Marktakteure fragen sich schon seit längerem, auf was Janet Yellen eigentlich noch wartet. Nach der Sommerpause – das steht wohl als einziges wirklich fest – wird der Blick der Finanzmärkte auf die USA gerichtet sein. Auch wenn die Märkte auf einen ersten Zinsanstieg im September ausreichend vorbereitet zu sein scheinen, lässt sich nur darüber spekulieren, ob sie den auch entsprechend locker wegstecken werden. Es wäre nur vernünftig, denn 25 Basispunkte werden die Konjunktur kaum streifen. Vernunft war an den Märkten allerdings selten der richtige Ratgeber. (Raiffeisen/mc/ps)

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