Harro von Senger (Sinologe) zu Chinas Wachstumspolitik

Harro von Senger (Sinologe) zu Chinas Wachstumspolitik

Harro von Senger, Sinologe und Autor (Bild: (c) business bestseller – Günther Reisp)

Von Helmuth Fuchs

Moneycab: China’s Ministerpräsident Li Keqiang hat das verlangsamte Wachstum als Resultat der geplanten Strukturreform hin zu einem «Qualitätswachstum» positioniert. Eine in China erlaubte und geachtete List oder Ausdruck eines anderen Wirtschaftsmodells, das nicht auf einseitiges Wachstum setzt?

Harro von Senger: Bei der Beantwortung derartiger Fragen gehe ich jeweils vom wichtigsten Satz in den amtlichen Dokumenten der Volksrepublik China aus. Er steht in der Satzung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und lautet: „In der gegenwärtigen Etappe ist der Hauptwiderspruch in der chinesischen Gesellschaft der Widerspruch zwischen den wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnissen des Volkes und der rückständigen gesellschaftlichen Produktion.“

«Unter „Wirtschaftsaufbau“ wurde einseitig das Wachstum des BIP verstanden.» Harro von Senger, Sinologe und Bestseller-Autor

Entsprechend dem Marx-Ausspruch „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern“ hat die KPC den Hauptwiderspruch nicht festgelegt, um China zu interpretieren, sondern um China zu verändern. Zur Lösung des „Hauptwiderspruchs“ setzt die chinesische Führung eine grosse Zahl von amtlichen Normen ein, wobei die „Grundlinie der Partei“ die wichtigste ist. Sie schreibt vor, der Wirtschaftsaufbau sei die Mittelpunktaufgabe des 1, 3-Milliardenvolkes. Unter „Wirtschaftsaufbau“ wurde einseitig das Wachstum des BIP verstanden.  Zwischen 1978 und 2013 lag das jährliche Wachstum der chinesischen Wirtschaft nahe bei 10 % und zwischen 2003 und 2007 bei über 11,5 %. 2012 und 2013 sank das Wachstum auf  7.7 % und in den ersten neun Monaten 2014 auf 7.4 %.

«Die ganz enge, um das BIP kreisende Auslegung der „materiellen Bedürfnisse des Volkes“ führte zu zahlreichen Verwerfungen.»

Die ganz enge, um das BIP kreisende Auslegung der „materiellen Bedürfnisse des Volkes“ führte zu zahlreichen Verwerfungen, beispielsweise was Umweltverschmutzung und Ressourcenverbrauch angeht. Das hat die jahrzehntelang BIP-fokussierte chinesische Führung inzwischen auch gemerkt, weshalb sie nun auf eine „neue Normalität (xin changtai)“ einschwenkt und einen Wandel zu einem quantitativ mittleren, aber qualitativ höheren (insbesondere umweltverträglicheren) Wachstum propagiert. Denn was nützt ein hohes BIP, das durch dauerhaft verpestete Luft und ungeniessbares Trinkwassers erkauft wird? Bei der Neuorientierung des chinesischen Wirtschaftswachstums handelt es sich nicht um eine Strategemanwendung, sondern um eine im Grunde konventionelle Massnahme im Rahmen der nicht bloss mit List operierenden Supraplanung.

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