Isabelle Bindschedler, Präsidentin Schweizerische Flüchtlingshilfe, im Interview

Isabelle Bindschedler, Präsidentin Schweizerische Flüchtlingshilfe, im Interview

Isabelle Bindschedler, Präsidentin Schweizerische Flüchtlingshilfe. (Foto: zvg/mc)

von Patrick Gunti

Moneycab.com: Frau Bindschedler, seit dem 2. Weltkrieg waren nie mehr so viele Menschen auf der Flucht wie heute. Die Flüchtlingsströme nach Europa haben das Jahr 2015 geprägt. Was empfinden Sie angesichts dieses Elends?

Isabelle Bindschedler: Ich empfinde Wut und Ohnmacht. Ich bin schockiert, wie einige Länder in Europa mit den Menschen umgehen, welche auf der Flucht sind. Sicherheitskräfte gehen gegen die Ankommenden – Familien, Frauen und Kinder – mit Knüppeln und Tränengas vor. Mauern aus Stacheldraht werden an den Grenzen errichtet. Ich bin mir bewusst, dass ich als einzelne Person die Welt nicht verändern kann. In der Schweiz aber habe ich die Möglichkeit mich beruflich wie als Freiwillige zu engagieren und politisch einzubringen, damit in der Schweiz zumindest Asylsuchende mit Respekt aufgenommen werden, sie in menschenwürdigen Unterkünften beherbergt werden und ein faires Asylverfahren durchlaufen.

Millionen Menschen aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, Somalia etc. haben in Europa, in der Türkei oder in Jordanien Zuflucht gesucht. Ein Ende ist nicht abzusehen. Wie können diese gigantischen Herausforderungen bewältigt werden?

Diese Herausforderungen sind nicht neu. Sie sind nur in diesem Jahr durch die Flüchtlinge auf der sogenannten Balkanroute für Europa wieder deutlicher und spürbarer geworden. Länder wie Kenia, Pakistan und Iran und, seit Beginn des Syrien-Konfliktes, auch Libanon sowie die Türkei beherbergen schon seit Jahren über eine Million Flüchtlinge. Vor dem Bürgerkrieg war Syrien eines der Länder, das sehr viele irakische Flüchtlinge aufgenommen hat. Diese Zahlen und die geographische Verteilung zeigen auch, dass nur wenige Prozente der durch Kriege und Diktaturen vertriebenen Personen – meist unter Lebensgefahr – nach Europa fliehen. Weit über 80 Prozent der Flüchtlinge leben in den Nachbarländern ihres Heimatlandes, oft in Lagern oder unter anderweitig sehr prekären Umständen.

«Scheitert eine solidarische europäische Flüchtlingspolitik, scheitert Europa als Friedensprojekt.»

Der Anteil der Schweiz an der Herausforderung ist sehr gering. Nebst der Bekämpfung der Fluchtursachen müssen Europa und die Schweiz zu einer glaubwürdigen, gemeinsamen Flüchtlingspolitik finden, auch um Vorbild für die wirtschaftlich deutlich schlechter gestellten Länder zu sein, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen. Die Schutz suchenden Menschen benötigen faire Asylverfahren und menschenwürdige Aufnahmebedingungen in den Zielländern. Scheitert eine solidarische europäische Flüchtlingspolitik, scheitert Europa als Friedensprojekt.

Das «Time»-Magazin hat Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Person des Jahres gekürt, weil sie angesichts der Flüchtlingsströme mit Menschlichkeit, Grosszügigkeit und Toleranz agiert habe. Sind dies die erfolgsversprechenden Lösungsansätze?

Es ist wichtig, Personen, die sich für eine humanitäre und offene Flüchtlingspolitik einsetzen, auch entsprechend zu würdigen. Die politische Weitsicht und die friedensstiftende Kraft, die eine solche Politik hat, kann kaum überschätzt werden. Allerdings: Mit der Kür der Person des Jahres ist noch kein einziger Flüchtling gerettet. Deutschland ist zudem Teil des Europäischen Asylsystems und der damit einhergehenden Verlagerung der Grenzkontrollen an die Aussengrenzen des Schengen-Raumes. Dieses System trägt dazu bei, dass die Verantwortung auf wenige Länder verteilt wird.

Die immer wieder genannten Länder Griechenland und Italien haben mit Ungarn, Österreich, Deutschland und Schweden über 80 Prozent aller Asylsuchenden aufgenommen, die in den letzten zwei Jahren nach Europa kamen. Die Folgen der dadurch verursachten Überforderung Italiens und Griechenlands, aber auch Ungarns, können wir derzeit beobachten. Menschlichkeit, Grosszügigkeit und Toleranz sind angesichts der unbeschreiblichen Tragödie eine Pflicht für jede und jeden von uns.

«Menschlichkeit, Grosszügigkeit und Toleranz sind angesichts der unbeschreiblichen Tragödie eine Pflicht für jede und jeden von uns.»

Schaut man nach Deutschland und in andere europäische Länder, ist die Zahl der Menschen, die in der Schweiz um Asyl ersuchen, vergleichsweise klein. Dennoch hat sie auch hierzulande in den letzten Monaten stark zugenommen. Wie präsentiert sich die aktuelle Situation aus Sicht der Flüchtlingshilfe?

Die aktuelle Zunahme der Zahl der nach Europa kommenden Flüchtlinge ist ein Ergebnis der Verzweiflung der Menschen, die seit Jahren unter Bürgerkriegen und anderen prekären Situationen leiden. Ein Drittel aller neu einreisenden Flüchtlinge kommen aus Syrien. Nimmt man Irak und Afghanistan dazu, sind es bereits 60 Prozent. Die Aufnahme dieser Menschen kann immer wieder kurzfristig ein logistisches Problem darstellen, da innert kurzer Zeit eine gewisse Anzahl Menschen untergebracht werden müssen. Für die Schweiz gilt: Die Behörden des Bundes haben in Kooperation mit den Kantonen und Gemeinden, aber auch mit der Hilfe der Hilfswerke und der Zivilgesellschaft, die Lage bisher sehr gut im Griff. Auch auf steigende Flüchtlingszahlen ist das System in der Aufnahme vorbereitet.

Die wirkliche Herausforderung beginnt mit der Integration der Flüchtlinge in Gesellschaft und Wirtschaft. Hier haben wir in den letzten Jahren aufgrund des Fokus auf die sogenannte „Missbrauchsbekämpfung“ vieles versäumt, was nun dringend nachgeholt werden muss. Dafür muss auch die Zivilgesellschaft besser in das Asylsystem integriert werden. Der Fokus allein auf die Unterbringung kann grosse Probleme hervorrufen. Mehr als 80 Prozent aller hängigen Asylverfahren betreffen Personen aus sechs Ländern (Eritrea, Afghanistan, Syrien, Irak, Sri Lanka und Somalia), deren Schutzbedarf sehr hoch ist. Lassen wir diese Menschen weiter in staatlicher Abhängigkeit in Zentren „versauern“, kreieren wir ein erhebliches Problem. Diesen Menschen muss die Möglichkeit gegeben werden, für sich selbst zu sorgen und Kontakt zu unserer Lebensweise zu erhalten, sonst werden diese Personen auf Dauer von uns abhängig sein. Dies ist weder in ihrem noch in unserem Sinne.

«Von Asylchaos kann entgegen den Behauptungen von politischen Exponenten gar keine Rede sein.»

Unermüdlich geschürte Ängste haben der SVP im Oktober einen Stimmenanteil von fast 30 Prozent eingebracht. Können Sie mit dem Begriff «Asylchaos» etwas anfangen?

Im Vergleich zu unseren Nachbarstaaten Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich haben wir in der Schweiz einen sehr moderaten Anstieg von Asylsuchenden und Flüchtlingen. Mit der für 2016 prognostizierten Zahl von rund 40‘000 Gesuchen ist die Schweiz noch weit entfernt von den Flüchtlingszahlen im Zusammenhang mit dem Krieg auf dem Balkan (Bosnien, Kosovo) im Jahre 1999. Von Asylchaos kann entgegen den Behauptungen von politischen Exponenten gar keine Rede sein.

Welche Folgen für Ihre Anliegen befürchten Sie durch die aktuellen politischen Entwicklungen hierzulande?

Aus meiner Sicht sind die „aktuellen politischen Entwicklungen“ auch sehr ermutigend. Erstmals seit langem haben sich alle im Bundesrat vertretenen Parteien – mit einer Ausnahme – auf den Versuch einer ganzheitlichen Lösung für die Durchführung von Asylverfahren statt einer Bewirtschaftung des Asylthemas entschieden. Kurzfristig wäre es daher unbedingt notwendig, diesen vom Parlament beschlossenen Weg konsequent weiterzugehen und die Asylreform, die uns wesentlich kürzere und gleichzeitig faire Verfahren bringen wird, umzusetzen. Das Asylsystem der Schweiz könnte bei einer klaren Linie und Umsetzung zum Vorbild für Europa werden, weil es seiner Aufgabe nachkommen kann, nämlich die Personen schnell zu erkennen, die unseren Schutz brauchen.

Was halten Sie Aussagen entgegen, die Schweiz sei zu attraktiv für Asylbewerber?

Mit dieser Aussage kann ich nichts anfangen. Es ist eher umgekehrt, wenn wir den Vergleich zu unseren Nachbarstaaten machen. Ich nehme wahr, dass in der Schweiz eine Politik wie Rechtsanwendung der Abschreckung betrieben wird. Dies zeigt sich ja gerade an der geringen Zahl Asylsuchenden. Gleichzeitig zeigt die Forschung, dass die Kenntnis über nationale Asylsysteme bei den Asylsuchenden ziemlich gering ist und die Wahl des Ziellandes häufig von anderen Faktoren abhängt, nämlich den kulturellen, familiären und anderen Bindungen. Wir neigen dazu die Wirkung der Abschreckungspolitik sowie den Einfluss und den Handlungsspielraum unseres politischen Systems zu überschätzen.

Die gesamte Rhetorik der Asyl- und Flüchtlingsdiskussion ist extrem negativ belastet. Konstruktive Lösungen, ein friedlicher Diskurs, mehr Solidarität und Humanität bleiben auf der Strecke. Haben Sie ein Rezept, wie sich dies ändern lässt?

Die SFH und die ihr angeschlossenen Hilfswerke erreicht seit Monaten eine nicht abreissende Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft. Dieses überwältigende Zeichen einer humanitären Schweiz ist eine grosse Motivation für unsere Arbeit. Die SFH hat Strukturen aufgebaut, um diese Hilfsbereitschaft für die Flüchtlinge sichtbar zu machen und die Hilfe bei ihnen ankommen zu lassen. Vielleicht müssen wir und die Medien noch ein bisschen mehr darüber reden, wie sehr es vielen Menschen ein Bedürfnis ist, zu helfen und welche Angebote wir erhalten.

«Die sehr hohe Bereitschaft der Bevölkerung zu spenden und private Unterkünfte anzubieten wird medial leider von der Panikmache von gewissen politischen Akteuren überlagert.»

Wie nehmen Sie die Diskussionen in der Gesellschaft abseits der politischen Pfade wahr, wenn wir die beleidigenden Stammtisch-Beiträge in Online-Foren, Kommentarspalten und auf Facebook dabei ausklammern?

Sehr unterschiedlich. In meinem Bekanntenkreis gibt es Personen, welche Asylsuchende und Flüchtlingen Deutschunterricht geben, Winterkleider sammeln, Mittags-Tische oder Café-Nachmittage organisieren sowie mit Asylsuchenden auf den Vita Parcours gehen. Ich höre sehr wohl auch kritische Stimmen, welche Befürchtungen äussern im Zusammenhang mit der Sicherheitssituation und der mangelnden beruflichen Integration von Flüchtlingen. Die sehr hohe Bereitschaft der Bevölkerung zu spenden und private Unterkünfte anzubieten wird medial leider von der Panikmache von gewissen politischen Akteuren überlagert.

Wie haben sich die Spenden im zu Ende gehenden Jahr entwickelt?

Die bereits erwähnte Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft wirkt sich auch bei den Spenden aus. Dafür sind wir sehr dankbar.

Wie können Private über Spenden hinaus bei der Entschärfung der Situation helfen?

Private können sich dafür einsetzen, dass in ihren Gemeinden Unterkünfte für Asylsuchende und Flüchtlinge bereit gestellt werden, sei es Militärunterkünfte, Zivilschutzanlagen oder geschlossene Hotels. Sie können sich politisch engagieren und innerhalb der Zivilgesellschaft sich als Freiwillige bei Hilfswerken und im Asylbereich tätigen Akteuren verpflichten.

Bei der Flüchtlingshilfe kam es Mitte des Jahres zum überraschenden Abgang von Generalsekretär Beat Meiner. Mit Miriam Behrens haben Sie nun die Nachfolge geregelt. Was werden für die neue Generalsekretärin die grössten Herausforderungen sein?

Die Arbeit zu einem gesellschaftlich so kontrovers diskutierten Thema wie der Flüchtlingspolitik und die damit verbundenen Verfahren sind an sich die grösste Herausforderung des Engagement der SFH. Dies wird sich auch mit Miriam Behrens nicht ändern. Es ist nicht zu erwarten, dass hier Ruhe einkehren wird. Wenn wir es gemeinsam schaffen, den Fokus von der Aufnahme auf die notwendigen Integrationsprozesse zu lenken, hätten wir eine Menge erreicht. Die Schweiz gewährt aktuell etwa ¾ aller Personen Schutz, die ein Asylgesuch stellen, wenn sie für dieses Gesuch zuständig ist. Diese Personen brauchen unseren Schutz und eine Perspektive. Ihnen eine Chance auf ein Leben in Freiheit und Sicherheit zu geben, ist unsere grösste Herausforderung. Dazu wird die SFH weiterhin ihren Beitrag leisten.

Frau Bindschedler, herzlichen Dank für das Interview.

Zur Person:
Isabelle Bindschedler, 1959, Juristin. Leitet seit 2010 die Abteilung Anwaltschaft bei Caritas Schweiz in Luzern. Seit April 2014 und bis Mai 2016 Präsidentin der Schweizerischen Flüchtlingshilfe.

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