Michelle Plüss, CEO und Co-Founder MPAssist, im Interview

von Patrick Gunti
Moneycab.com: Frau Plüss, Sie waren bis Ende 2023 als Medizinische Praxisassistentin tätig. Wie blicken Sie auf diese Zeit zurück?
Michele Plüss: Ich blicke mit grosser Dankbarkeit auf meine Zeit als MPA zurück. Eine meiner Lehrerinnen nannte den Beruf einmal eine «Lebenslehre» und genau so habe ich es empfunden. Ich hatte das grosse Glück, in tollen Teams arbeiten zu dürfen, von denen ich sehr viel gelernt habe. Besonders geschätzt habe ich den engen Kontakt zu den Patientinnen und Patienten, für deren Anliegen ich immer ein offenes Ohr hatte. Diese Begegnungen haben mir viel Freude bereitet.
MPAs sind das organisatorische Rückgrat vieler Arztpraxen. Wie viel Zeit verbringen sie mit Administration?
Ein grosser Teil meiner Arbeit war mit administrativen Aufgaben verbunden, allerdings immer abhängig von der Fachrichtung und dem Digitalisierungsgrad der jeweiligen Praxis. Schon meine Lehrzeit habe ich in einer Hausarztpraxis absolviert, die damals bereits vollelektronisch gearbeitet hat, ein absoluter Ausnahmefall zu dieser Zeit. Das hat mein Interesse an digitalen Prozessen geweckt. Wo immer möglich, habe ich mich dafür eingesetzt, Abläufe zu optimieren und die Digitalisierung voranzutreiben, was mir meistens gelungen ist.
«Angesichts des Fachkräftemangels halte ich es für unabdingbar, moderne Technologien einzusetzen, um Arbeitsplätze attraktiver zu gestalten und die Versorgung langfristig zu sichern.»
Michelle Plüss, CEO und Co-Founder MPAssist, im Interview
Das Arbeitsumfeld ist sehr dynamisch und durch hohen Zeitdruck geprägt. Wie weit helfen dabei nach Ihrer Erfahrung die zunehmend eingesetzten digitalen Systeme?
Digitale Tools entlasten enorm und wirken dem hohen Zeitdruck im Praxisalltag spürbar entgegen. Jede Unterstützung ist derzeit willkommen, damit sich Ärztinnen, Ärzte und die Teams im Hintergrund wieder stärker auf die Patientinnen und Patienten konzentrieren können. Angesichts des Fachkräftemangels halte ich es für unabdingbar, moderne Technologien einzusetzen, um Arbeitsplätze attraktiver zu gestalten und die Versorgung langfristig zu sichern.
Sie haben Mitte 2023 MPAssist gegründet und unterstützen Praxen dabei, mit KI-Tools Verwaltungsaufgaben zu reduzieren und die Patientenversorgung zu verbessern. Wie viel Unterstützung bei Patientenmanagement ermöglicht Ihre Medical AI Suite?
Mit unserer Medical AI Suite decken wir unterschiedliche Anwendungsfälle ab. Mein Lieblingsbeispiel ist das Berichtswesen, weil es einen besonders grossen Zeitfaktor darstellt. Jeder Arztbesuch, jede Operation und jede Intervention muss dokumentiert werden. Oft geschieht das noch per Hand oder über Diktate, die später von MPAs oder Arztsekretärinnen abgetippt werden. Diesen Prozess automatisieren wir: Unsere KI erstellt die Berichte innert weniger Minuten mit einer Wortfehlerrate von nur rund 1 %. Da Berichte an Zuweiser zeitnah verschickt werden müssen, ermöglicht die Automatisierung eine Zeitersparnis von rund 50 % – Zeit, die letztlich wieder den Patientinnen und Patienten zugutekommt.
Wie würden Sie die Funktionsweise einer Ärztin oder einem Arzt beschreiben – und wie einer MPA?
Unsere Lösung versteht sich als intelligente Assistenz. Für Ärztinnen und Ärzte bedeutet das, dass sie von Routine- und Dokumentationsaufgaben entlastet werden und ihre volle Aufmerksamkeit wieder den Patientinnen und Patienten widmen können. Für MPAs ist es eine wertvolle Unterstützung, die administrative Arbeiten vereinfacht, Prozesse beschleunigt und Fehler reduziert. Dadurch werden beide Berufsgruppen gestärkt, nicht ersetzt. Die medizinische Kompetenz bleibt stets beim Menschen, die KI liefert den nötigen Rückhalt im Hintergrund.
«Die medizinische Kompetenz bleibt stets beim Menschen, die KI liefert den nötigen Rückhalt im Hintergrund.»
Gibt es Praxisgrössen oder Fachrichtungen, für die die Medical AI Suite besonders geeignet ist?
Unsere Lösungen sind grundsätzlich für alle Fachrichtungen sowie für Praxen, Spitäler und Kliniken geeignet. Besonders deutlich macht sich der Effekt natürlich bei grösseren Teams bemerkbar, da dort mehr Ressourcen eingespart und Arbeitsabläufe spürbar beschleunigt werden können.
Sie arbeiten zwei Jahre nach der Gründung bereits mit 170 Schweizer Gesundheitsinstitutionen zusammen. Wie stemmen Sie dieses schnelle Wachstum?
Das schaffen wir nur, weil wir ein hochmotiviertes Team haben, das sich gegenseitig vertraut und eng zusammenarbeitet. Wir haben klare Verantwortlichkeiten, kurze Entscheidungswege und ein gemeinsames Ziel: den Praxisalltag spürbar einfacher zu machen. Zudem hören wir unseren Kundinnen und Kunden genau zu und entwickeln unsere Lösungen mit ihnen weiter, das sorgt für eine hohe Akzeptanz und treibt unser Wachstum nachhaltig voran.
Wie sind die Reaktionen der Praxen und Gesundheitsinstitutionen?
Anfangs begegnete man dem Thema KI mit einer gewissen Skepsis. Das ist bei neuen Technologien ganz normal, und auch wir hatten zunächst mit Ablehnung zu kämpfen, weil das Wissen darüber fehlte. Mittlerweile hat sich das stark verändert: Das Thema ist breiter bekannt, das Interesse gross, und wir treffen zunehmend auf gut informierte und neugierige Gesprächspartnerinnen und -partner. Indem wir unsere Prozesse transparent erklären, schaffen wir Vertrauen – und genau das führt dazu, dass sich immer mehr Institutionen für unsere Lösungen öffnen.
Aktuell entwickelt MPAssist eine Praxisverwaltungssoftware. Wann wird das System zur Verfügung stehen und was wird es bieten?
Wir arbeiten an einer AI-basierten Praxissoftware, die als täglicher «digitaler Agent» mitdenkt. Dieser Agent wird Ärztinnen und Ärzte aktiv unterstützen, indem er Patientendaten intelligent verknüpft, passende Vorlagen vorschlägt, an Fristen erinnert und administrative Aufgaben automatisiert. Dadurch werden Doppelspurigkeiten vermieden und Abläufe flüssiger. Eine erste Pilotierung ist im November dieses Jahres geplant, die erste marktreife Version wird im Q3 2026 verfügbar sein. Perspektivisch soll der Agent auch in der Lage sein, interdisziplinäre Informationen zusammenzuführen, sodass die Behandlung noch koordinierter und patientenzentrierter wird.
«Wir arbeiten an einer AI-basierten Praxissoftware, die als täglicher «digitaler Agent» mitdenkt. Dieser Agent wird Ärztinnen und Ärzte aktiv unterstützen, indem er Patientendaten intelligent verknüpft, passende Vorlagen vorschlägt, an Fristen erinnert und administrative Aufgaben automatisiert.»
Wie gelingt es der KI, medizinische Dokumente und Patientendaten korrekt und datenschutzkonform zu verarbeiten?
Datensicherheit hat bei uns oberste Priorität. Unsere Systeme arbeiten nach Schweizer Datenschutzstandards. Die Daten werden verschlüsselt verarbeitet und gespeichert, Zudem werden unsere Modelle kontinuierlich überprüft und weiterentwickelt, um höchste Genauigkeit sicherzustellen. So garantieren wir, dass medizinische Dokumente korrekt, zuverlässig und absolut vertraulich verarbeitet werden.
Welche Fähigkeiten brauchen MPAs, um mit Ihrer KI-Lösung effektiv zu arbeiten?
Wichtig ist vor allem die Bereitschaft, Neues auszuprobieren und die Vorteile der digitalen Unterstützung zu sehen. Eine gewisse technische Offenheit hilft, aber wir gestalten unsere Tools so intuitiv, dass keine speziellen Vorkenntnisse notwendig sind. Entscheidend ist die Motivation, Zeit im Alltag gewinnen und Prozesse vereinfachen zu wollen. Zusätzlich fördern wir kontinuierlich Schulungen und begleiten die Teams bei der Einführung. So wird der Einstieg erleichtert und die Hemmschwelle schnell abgebaut.
Wie verändert sich der Alltag einer MPA konkret mit Ihrem KI-gestützten System?
MPAs gewinnen durch unsere Lösungen vor allem eines: mehr Zeit für das Wesentliche, nämlich die Betreuung der Patientinnen und Patienten. Sie rücken wieder stärker in die Rolle der helfenden Hand an der Seite der Ärztinnen und Ärzte, so wie es ursprünglich das Berufsbild vorsah. Dazu gehört auch die sorgfältige Organisation der Vor- und Nachbereitung von Konsultationen. Für viele MPAs ist das eine Rückkehr zu den Tätigkeiten, die ihnen am meisten Freude bereiten.
Manche MPAs befürchten aber auch, dass die KI ihre Aufgaben resp. sie selbst zu einem gewissen Teil ersetzt. Wie begegnen Sie diesen Sorgen?
Diese Bedenken nehmen wir sehr ernst. Unsere Vision ist es nicht, Menschen zu ersetzen, sondern sie zu entlasten. KI übernimmt monotone und zeitaufwendige Arbeiten, damit MPAs wieder mehr in ihre ursprüngliche Rolle zurückkehren können: als direkte Unterstützung für die Ärztinnen und Ärzte und als erste Ansprechperson für die Patientinnen und Patienten. Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass nach der Einführung die Skepsis schnell weicht, sobald die Teams spüren, wie viel Entlastung entsteht. Letztlich soll die Arbeit erfüllender und attraktiver werden – nicht überflüssig.