Gletscherschmelze: Jedes Zehntelgrad zählt

Gletscherschmelze: Jedes Zehntelgrad zählt
Der Gletscherrückgang ist ein weltweites Phänomen. Der Chandran-Gletscher in Indien ist ein augenscheinliches Beispiel des Rückgangs in Asien. (Bild: Alexandra von der Esch / ETH Zürich)

Zürich – Eine neue Studie mit Beteiligung der ETH Zürich zeigt: Überschreitet die Erderwärmung die Pariser Klimaziele, schrumpfen die nicht-polaren Gletscher massiv. Wird sie jedoch auf 1,5 °C begrenzt, könnten rund 54 Prozent der Gletscher erhalten bleiben – mehr als doppelt so viel wie bei 2,7 °C.

Die im renommierten Fachjournal Science veröffentlichten Ergebnisse lassen aufhorchen: Selbst, wenn sich der globale Temperaturanstieg auf dem aktuellen Niveau von 1,2 °C einpendelt, droht dennoch – im Vergleich zu 2020 – ein Rückgang der weltweiten Gletschermasse um 39 Prozent. Die Folge wäre ein Anstieg des Meeresspiegels um mehr als 10 Zentimeter.

Für die aktuelle Studie berechnete ein internationales Team aus 21 Forschenden aus zehn Ländern anhand von acht Modellen den potenziellen Eisschwund von mehr als 200’000 Gletschern ausserhalb Grönlands und der Antarktis. Das internationale Forschungsteam analysierte mehrere globale Szenarien unter der Annahme, dass die Temperaturen über mehrere Jahrtausende hinweg konstant bleiben.

«Die Entscheidungen, die wir heute treffen, werden noch Hunderte Jahre nachwirken und bestimmen, wie viele unserer Gletscher bewahrt bleiben», erklärt Harry Zekollari, Mitautor der Studie von der Freien Universität Brüssel, der dieses Forschungsprojekt aufgleiste, als er Postdoktorand an der ETH-Professur für Glaziologie des Departements Bau, Umwelt und Geomatik (D-BAUG) war.

Neue Erkenntnisse beim Blick über 2100 hinaus
In allen Szenarien verlieren die Gletscher über Jahrzehnte hinweg rasch an Masse und schmelzen anschliessend über Jahrhunderte langsamer weiter – auch ohne zusätzliche Erwärmung. Dieser langfristige Effekt bedeutet, dass die Gletscher noch weit in die Zukunft hinein unter den Auswirkungen der heutigen Hitze leiden und sich allmählich in höhere Lagen zurückziehen werden, bevor ein neues Gleichgewicht erreicht ist.

«Das Besondere unserer Studie ist, dass wir die globale Gletscherentwicklung erstmals über mehrere hundert Jahre hinweg und mithilfe von acht Modellen berechneten anstatt nur mit einem oder zwei», sagt Zekollari. «Die meisten Untersuchungen zu Gletschern enden im Jahr 2100. Das ist problematisch, wenn es darum geht, die langfristigen Auswirkungen heutiger Klimapolitik auf die Gletscher zu simulieren – schliesslich reagieren die Gletscher über sehr lange Zeiträume und nur zeitlich verzögert auf den Klimawandel.»

Zum Beispiel schätzen andere Studien, deren Zeithorizont nur bis zum Jahr 2100 reicht, dass etwa 20 Prozent der heutigen Gletschermasse verloren gehen – und zwar unabhängig davon, wie genau die Temperatur in Zukunft ansteigt. Im Unterschied dazu zeigt die neue Studie, die einen viel längeren Zeitraum über mehrere Jahrhunderte betrachtet, dass unter den heutigen Bedingungen fast doppelt so viel Gletschereis verschwinden würde. «Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass effektiv etwa 40 Prozent der Gletschermasse schmelzen werden», erklärt Zekollari.

Gletscherschmelze macht Erderwärmung sichtbar
«Wir können den Rückgang der Gletscher mit eigenen Augen sehen. Darum sind Gletscher sehr gute Indikatoren für den Klimawandel. Da sie sich jedoch nur langsam und über sehr lange Zeiträume an Klimaveränderungen anpassen, zeigt ihre heutige Grösse bei weitem nicht das tatsächliche Ausmass des bereits erfolgten Klimawandels an. Der Zustand der Gletscher ist heute schlechter als es in den Bergen aussieht», mahnt Lilian Schuster von der Universität Innsbruck und Co-Autorin der Studie.

Der Gletscherschwund hat auch über den Meeresspiegelanstieg hinaus weitreichende Folgen. Er gefährdet die Trinkwasserversorgung, erhöht das Risiko von Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Erdrutschen und bedroht den Tourismus in betroffenen Gebieten. Diese Dominoeffekte werden für Regionen und Generationen spürbar sein.

«An diesen Auswirkungen wird deutlich, wie wichtig die heutige Klimapolitik ist», betont Zekollari. «Unsere Studie zeigt deutlich, dass jedes Zehntelgrad zählt. Gelingt es, die Erderwärmung auf +1,5 °C einzuschränken statt auf +2,7 °C, könnten wir noch doppelt so viel Gletschereis retten.»

Die aktuelle Klimapolitik steuert auf eine durchschnittliche Erderwärmung von etwa 2,7 °C zu. Wie stark die Gletscher im Endeffekt tatsächlich schmelzen, hängt laut Zekollari entscheidend davon ab, ob sich die Erwärmung eher bei 1,5 °C einpendelt oder näher bei 3,0 °C liegen wird. In ihrer Studie zeigen die Forschenden auf, dass wenn die globale Erwärmung 2,7 °C beträgt, dass die Gletscher dann auf 24 Prozent ihrer heutigen Grösse schrumpfen würden. Gelingt es hingegen, den Temperaturanstieg laut Pariser Abkommen auf 1,5 °C zu begrenzen, liessen sich 54 Prozent erhalten – mehr als doppelt so viel. Anders gesagt: Mit jedem weiteren Zehntelgrad werden etwa zwei Prozent mehr Gletschereis verloren gehen.

Zum UNO-Jahr des Gletscherschutzes beitragen
«Diese Studie steht ganz im Zeichen des Internationalen Jahres der Erhaltung der Gletscher der Vereinten Nationen (UNO). Sie verdeutlicht einmal mehr, wie dringend weltweite Klimaschutzmassnahmen zugunsten der Gletscher erforderlich sind», erklärt Daniel Farinotti, Professor für Glaziologie an der ETH Zürich und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL).

Seine Forschungsgruppe an der ETH-Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) wirkte massgeblich an der Erarbeitung der neuen Erkenntnisse mit. Die von Zekollari und Schuster geleitete Studie entstand im Rahmen des Glacier Model Intercomparison Project (GlacierMIP) und wurde koordiniert vom Climate and Cryosphere (CliC) Project des World Climate Research Programme (WCRP).

Wie Farinotti anmerkt, fällt die Veröffentlichung der Studie in Science zeitlich zusammen mit der Eröffnung der externe SeiteInternationalen Konferenz zur Erhaltung der Gletscher, die der Präsident Tadschikistans im Rahmen einer UNO-Resolution initiierte. Darin wurde das Internationale Jahr der Erhaltung der Gletscher ausgerufen, was später zur Ausrufung des UNO-Jahrzehnts für Kryosphärenwissenschaften 2025–2034 führte.

Auf Schweizer Seite wurde das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) gebeten, bei der Organisation der Veranstaltung mitzuwirken, besonders an der Ausarbeitung der geplanten Gletscherschutzerklärung von Dushanbe. Daniel Farinotti seinerseits wirkt als Berater des EDA bei der Ausarbeitung der Erklärung mit. (ETH/mc/pg)

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