Andreas Kaelin, Präsident ICT-Berufsbildung Schweiz

von Patrick Gunti


Herr Kaelin, zwei von der Stiftung IT-Berufsbildung Schweiz und dem BBT finanzierte Studien zeigen, dass sich der Fachkräftemangel in der ICT-Branche massiv zuspitzen wird. Bis ins Jahr 2017 fehlen in der Schweiz rund 32’000 Fachkräfte. Welches sind die Hauptursachen?


Wir rechnen zum einen mit einer steigenden Nachfrage nach guten ICT-Fachkräften wegen der wirtschaftlichen Entwicklung und dem zusätzlich Bedarf aufgrund der fortschreitenden Informatisierung unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Zum anderen bilden wir aber nicht genügend Fachkräfte aus, d.h. wir decken den zunehmenden Bedarf völlig unzureichend mit gut qualifiziertem Nachwuchs für die Berufslehre und das Universitätsstudium.


Die Zahl der Informatikstudenten steigt wieder an, nachdem sie zu Beginn des Jahrtausends während Jahren deutlich zurückgegangen waren. Wieso dieser Rückgang?


Nach dem Platzen der Dot-Com-Blase entstand der Eindruck, ICT entwickle sich rückläufig. Was im übrigen überhaupt nicht stimmt. Im Gegenteil, die Nachfrage nach guten ICT-Fachkräften ist kontinuierlich gestiegen. Aber das Image hat natürlich schon gelitten.


Sie sprechen das Image an – wie ist es generell um das Image des Berufsfeldes ICT bestellt?


Das Image ist tatsächlich ein Problem. Zum einen stellen sich viele junge Menschen unter Informatik-Berufen eine Tätigkeit im dunklen Kämmerlein zwischen Kabeln und Pizzaschachteln vor. Zudem suggerieren einzelne Meldungen von IT-Auslagerungen oder der Entlassung von zig Personen einer IT-Abteilung, dass ICT ein instabiles Berufsfeld sei. Tatsache ist aber, dass ICT heute in einem immer spannender und kommunikativer werdenden Geschäftsumfeld ausgeübt wird. Und die Anzahl der ICT-Arbeitskräfte ist auch nach der Dot-Com-Blase kontinuierlich angestiegen. Wir haben also viele Missverständnisse zu korrigieren.



«Die Chancen für wirklich gute Karrieren rund um die ICT sind sehr gross. Das müssen wir vermehrt rüberbringen.» Andreas Kaelin, Präsident ICT-Berufsbildung Schweiz


Welchen Einfluss haben die Anstellungsbedingungen ? sind diese attraktiv genug?


Wir glauben nicht, dass Löhne oder Anstellungsbedingungen das zentrale Problem darstellen. Vielmehr stimmen Image und Realität nicht miteinander überein. Die Chancen für wirklich gute Karrieren rund um die ICT sind sehr gross. Das müssen wir vermehrt rüberbringen.


Rund 1/3 der Beschäftigten der Branche sind in ICT-Unternehmen beschäftigt, 2/3 aber in Banken, Versicherungen oder Dienstleistungsbetrieben. Welche Folgen hat der Fachkräftemangel für diese Unternehmen?


Heute laufen fast alle zentralen Prozesse elektronisch ab. Wenn man da die ICT-Fachleute nicht hat um sie zu pflegen und weiter zu entwickeln, bedeutet das weniger Effizienz in den Geschäftsprozessen, Verlust von Marktattraktivität und im schlimmsten Fall auch Einbussen bei der Wettbewerbsfähigkeit.


Und für den Wirtschaftsstandort Schweiz?


Für die Schweiz hat der Fachkräftemange besonders grosse Folgen. Wir sind kein Rohstoff-Land. Unsere grösste Stärke sind Wissen und Innovation. ICT ist da ein zentraler Faktor.


Wie würde sich die Situation der Branche heute ohne die Zuwanderung präsentieren?


Ganz klar dramatisch. Wir sind froh, dass der Bundesrat in diesem Herbst die Kontingente gelockert hat.


Die Analyse zeigt, dass es in der Schweiz an geeigneten Strukturen und Instrumenten fehlt, um auf Veränderungen des ICT-Fachkräftebedarfs zeitnah und in der geforderten Qualität reagieren zu können. Wie soll denn nun das Problem in erster Priorität angegangen werden?


Wir haben einen ganzen Fächer von Massnahmen. Zum einen müssen die Anforderungen an die Ausbildung auf die aktuellen Bedürfnisse der Wirtschaft abgestimmt werden. Das tun wir über die Repositionierung der höheren Berufsbildung. Dann ist natürlich die Korrektur der Missverständnisse und des ungerechtfertigt schlechten Images der ICT-Berufe ein weiteres wichtiges Feld für uns. Zudem müssen wir die Ausbildungszahlen in der beruflichen Grundbildung stark erhöhen: Die berufliche Grundbildung ist Ausgangspunkt für die Entwicklung von hochqualifizierten Fachkräften.


Welche Massnahmen stehen im Vordergrund?


In erster Priorität werden Massnahmen für die Schaffung von zusätzlichen Lehrstellen in der Wirtschaft und Verwaltung umgesetzt. Im Rahmen der Repositionierung der höheren Berufsbildung wird auch ein neuer  Fachausweis Wirtschaftsinformatik entwickelt und angeboten werden, dazu drängt uns die Wirtschaft. Dann ist eine Imagekampagne in Vorbereitung.



«In erster Priorität werden Massnahmen für die Schaffung von zusätzlichen Lehrstellen in der Wirtschaft und Verwaltung umgesetzt.»


Und mittel- und langfristig?


Da steht die Neupositionierung der Berufsprüfungen zum Beispiel in Richtung eines Bachelor derzeit im Vordergrund. Wir müssen die ICT-Berufsbildung auf dem Arbeitsmarkt, auf die Anforderungen einer grenzüberschreitenden Wirtschaft anpassen.


Wie bringen Sie die Unternehmen dazu, mehr Lehrstellen zur Verfügung zu stellen?


Motivieren, aufzeigen des Nutzens, Unterstützung. Das sind die drei Pfeiler unseres Projekts zur Lehrstellenförderung.


Wie kann ICT als attraktives Berufsfeld positioniert werden ? gerade bei Frauen, die derzeit lediglich 11 % der Angestellten ausmachen?


Wir müssen nur zeigen, wie ICT heute wirklich aussieht. Wie spannend, wie variantenreich dieses Berufsfeld ist. Das man es in den ICT-Berufen zeitlich gesehen weniger mit Computern, als vielmehr mit Menschen und Geschäftsabläufen nahe beim Kunden zu tun hat. Wir müssen die Missverständnisse klären. Wir müssen auch darlegen, wie gut die Karrierechancen sind und wie praktisch eigentlich die ICT auch für Teilzeitjobs wäre. Bei letzterem müssen wir allerdings auch bei den Unternehmen noch ansetzen.


Herr Kaelin, besten Dank für das Interview.





Zur Person:
Andreas Kaelin, lic. rer. pol., ist Präsident des Berufsverbands ICT-Berufsbildung Schweiz. Er bekleidete verschiedene Funktionen in der Industrie und in der Unternehmensberatung in der Schweiz und Frankreich. Von 2001 – 2008 war er Mitglied der Konzernleitung der Luzerner Kantonalbank und Leiter Departement Logistik & Service. Seit 2009 ist er Alleininhaber der Firma ICPRO GmbH, ein unabhängiges Beratungs- und Dienstleistungsunternehmen in betriebswirtschaftlichen und informationstechnischen Themen. Zudem ist er Präsident des Swiss IT Leadership Forums, einer Vereinigung von Senior IT Managern der grössten ICT-Anwenderunternehmen der Schweiz.


ICT-Berufsbildung Schweiz:
Der Berufsverband ICT-Berufsbildung Schweiz betreibt die landesweit tätige Organisation der Arbeitswelt (OdA) für das Berufsfeld der Informations- und Kommunikationstechnologie  (ICT). Er schafft die Voraussetzungen für einen zahlenmässig ausreichenden und genügend qualifizierten Nachwuchs an ICT-Berufsleuten, ausgerichtet auf die Anforderungen von Wirtschaft und öffentlichen Verwaltungen und abgestimmt auf die internationalen Standards.


ICT-Berufsbildung Schweiz wurde im Frühjahr 2010 vom Dachverband ICT-Switzerland und den kantonalen und regionalen Organisationen der Arbeit (OdA) gegründet. In den Gremien engagieren sich die Vertreter der kant. und reg. OdA, die Präsidenten der grossen ICT-Verbände, Vertreter von CS, Microsoft und BIT sowie weitere namhafte Persönlichkeiten.

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