Architektonisches Meisterstück: Mercedes-Benz Museum

Erfüllt von neuen Eindrücken kehrt der Besucher nach eineinhalbstündigem Rundgang, der ihn in weiten Bögen durch die bereits 120 Jahre währende Automobilgeschichte führt, wieder an den Ausgangspunkt zurück.


 


Mehr als 100 000 Tonnen Beton sind im neuen Mercedes-Benz Museum verbaut, das auf 4 800 Quadratmeter Grundfläche eine Höhe von 47,5 Meter erreicht und damit einen umbauten Raum von 210 000 Kubikmeter einschliesst. Kaum ist dem vollendeten Gebäude in seiner Leichtigkeit und Eleganz mehr anzumerken, welche hoch komplexen organisatorischen Abläufe es in nur zweieinhalbjähriger Bauzeit entstehen liessen. Ganz ohne Stützen spannen sich 33 Meter weite Decken, die das Gewicht von zehn Lastwagen zu tragen imstande sind. Alles an dieser Architektur ist im Fluss: Es gibt weder geschlossene Räume noch gerade Wände. Keine der insgesamt 1.800 dreieckigen Scheiben, die einen unvergleichlichen Panoramablick auf das Neckartal und die Rebhänge der Umgebung freigeben, gleicht der anderen. Nur dank neuester, hochleistungsfähiger Software war es überhaupt möglich, die Form dieser Scheiben zu berechnen.


An der endgültigen Gestalt des Museums haben zwei Büros entscheidenden Anteil: HG Merz entwickelte die Konzeption von der Ausschreibung bis hin zur detaillierten Planung der Museumspräsentation. Das UN studio von Ben van Berkel und Caroline Bos gab dem Gebäude seine aufregende Gestalt und seine hoch innovative innere Organisation.


Interdisziplinäre Zusammenarbeit wie beim Bau eines Automobils


HG Merz ist Architekt. Seine Arbeit besteht allerdings weniger in der Planung von Neubauten. Mit der Marke Mercedes-Benz ist Merz bereits seit 20 Jahren verbunden. Grosses Renommee erwarb sich der Architekt 1993 mit dem Umbau der Alten Nationalgalerie auf der Museumsinsel im Zentrum Berlins. Seither unterhält Merz auch ein Büro in der Hauptstadt, wo er derzeit an der Renovierung und Erweiterung der Staatsbibliothek Unter den Linden arbeitet. Auf dem Gebiet der Unternehmens- und Technikgeschichte erregte das zwischen 1994 und 1996 von ihm konzipierte Zeppelin-Museum in Friedrichshafen grosses Aufsehen. Merz ist nicht nur für die Präsentation der Sammlung und der Unternehmensgeschichte im neuen Mercedes-Benz Museum verantwortlich, auch an der Konzeption hat er von Anfang an mitgearbeitet.



Das alte Museum ist zu klein geworden, zu gross und zu umfangreich ist die Geschichte. Ein wichtiger Bestandteil der Sammlung wie auch der Unternehmensgeschichte war bisher nicht ausgestellt worden: Schwere Lastwagen und Omnibusse konnten im alten Museum schon deshalb nicht gezeigt werden, weil dafür die Tragkraft der Decken nicht ausreichte. Somit war klar: Der Neubau musste in der Grösse der einzelnen Räume in völlig neue Dimensionen vorstossen.


 


«Die Notwendigkeit des doppelten Rundgangs ergibt sich aus dem Reichtum an Exponaten, die sich als Höhepunkte der Marke im Laufe der Geschichte des Unternehmens angesammelt haben», HG Merz.


Die beiden Wege des Museums: «Der Mythos-Rundgang folgt der Chronologie eines langen Jahrhunderts, der Rundgang durch die Collectionen dient der Vertiefung in die Systematik und in die vielen Facetten der Marke.» Zwischen beiden Rundgängen sollte sich der Museumsbesucher entscheiden, aber auch mittendrin von einem zum anderen wechseln können.


Das UN studio denkt quer
UN bedeutet United Network. Das Büro von Ben van Berkel und Caroline Bos besteht aus sechs verschiedenen Teams, die sich jeweils verschiedenen Aspekten der Arbeit widmen und in einem horizontalen Netzwerk verbunden sind: Neben dem Design Team und dem Project Team, dem Management Team und dem Coordination Team gibt es ein eigenes Technology Team und ein Computer Team. Damit reagiert das Büro auf die technologische Revolution, die sich derzeit auf dem Gebiet der Bautechniken und der Entwurfsprozesse vollzieht.


 


Der dynamische Prozess der Gestaltung
Van Berkel und Bos verstehen Architektur nicht als Planung unbeweglicher Baumassen, sondern als dynamischen Prozess, in dem soziale und ökonomische Triebfedern ebenso wie technologische Herausforderungen zusammenwirken. Auf dem Gebiet der Architektur, aber auch der Stadtplanung und Infrastrukturplanung arbeitet das Büro an der Frontlinie der gegenwärtigen Entwicklung.


Als bislang spektakulärster Entwurf gilt jedoch die Erasmus-Brücke in Rotterdam: 139 Meter hoch ragt der gegabelte, asymmetrisch geknickte Pylon in die Höhe, an dem parallele Schrägseile befestigt sind, welche die Brücke mit einer Spannweite von 800 Meter über die Maas führen.


 


Den Entwurfsprozess für das neue Mercedes-Benz Museum vergleicht Ben van Berkel mit der Konstruktion eines Automobils.


«Konzeptionelles Leitmotiv war die Entwicklung eines Gebäudes analog der Entwicklung eines Autos: Integration vieler Fachdisziplinen, Verschmelzung von technischen und ästhetischen Anforderungen, konsequente Einhaltung der Rahmenbedingungen bei gleichzeitiger Umsetzung innovativer Ansätze.»
Ben van Berkel


 


Städtebaulicher Höhepunkt im Neckartal
Als vertikales Zeichen erhebt sich der Bau auf einem sechs Meter hohen Plateau, das als «Neuerfindung im Verhältnis zu dem gesamten Gebiet» ? so Ben van Berkel ? das Areal aus seiner Umgebung emporhebt und zugleich durch seine runden Formen mit den Hügeln und Kurven des Neckartals korrespondiert.So erfüllt das neue Museum städtebaulich die Funktion eines Portals, der Passant erlebt den Bau als Dreh- und Angelpunkt auf dem Weg in die Stadt. Genau diese topographischen Bedingungen machte Ben van Berkel zum Ausgangspunkt seiner Planung. Der Autofahrer, der wie beim Landeanflug einer Düsenmaschine aus den Weinbergen kommend allmählich auf die Talsohle zuschwebt, sollte das Gefühl haben, von dem neuen Museum aufgefangen zu werden.


Die Doppelhelix auf dem Grundriss eines dreiblättrigen Kleeblatts
Als erste Ideenskizze entwarf UN studio eine scheinbar einfache, geometrische Figur. Sie besteht aus drei endlos in sich selbst zurückkehrenden Schlaufen und erinnert nicht von ungefähr an ein Kleeblatt, auf dessen Form eben auch ein Autobahndreieck oder der nahegelegene Anschluss der Bundesstrasse B 14 an die Bundesstrasse B 10 basieren. Nur führen die Wege hier nicht nach draussen, sondern sie verschlingen sich auf neun Ebenen entlang einer Zeitachse von der Erfindung des Automobils bis in die Gegenwart.


Zeitloses Schlendern durch die Zeiten
Während der chronologische Rundgang durch die Mythosräume auf einer langen, stufenlosen Rampe durch die Epochen der Automobilgeschichte führt, sind die Sammlungsräume durch eine zweite Spirale über schmalere Treppen an der Aussenseite des Gebäudes miteinander verbunden. Auf jeder Ebene gibt es Querverbindungen, die dem Besucher erlauben, nach eigenem Gutdünken zwischen den Sphären Mythos und Collection zu wechseln. Mythos- und Sammlungsrundgang unterscheiden sich in ihrer gegensätzlichen Orientierung nach innen und nach aussen. Den Gang durch den Mythos der Markengeschichte erlebt der Besucher, bis auf die Übergänge zwischen den Zeitaltern, fast wie im Kino von der Aussenwelt getrennt. Die weniger hoch ausgeführten Collectionsräume dagegen sind auf der ganzen Aussenseite zu einem lichten Panoramablick auf die Stuttgarter Stadtlandschaft geöffnet.


Einbiegen in die Zielgerade der Zukunft
Die Doppelhelix bietet ein Bild von der Entwicklung der bereits 120 Jahre dauernden Automobilgeschichte der Marke Mercedes-Benz und ihrer Vorgänger. In ihrer Historie seit der Erfindung des Automobils im Jahr 1886 liegen die Erbanlagen für die gegenwärtige und zukünftige Entwicklung. Genau dies vermittelt das neue Mercedes-Benz Museum dem Besucher schon in seiner architektonischen Gestalt: den untrennbaren Zusammenhang zwischen Tradition und Innovation.


34 Rennfahrzeuge von 1900 bis heute machen den Mythos Mercedes in Reinkultur erlebbar. Die rund 120 Meter lange Steilkurve, in der sich dem Betrachter die legendären Hochleistungsfahrzeuge präsentieren, greift die komplexe Geometrie des Gebäudes auf und erinnert zugleich an traditionsreiche Rennstrecken. Am Ende geht die Steilkurve in ein senkrechtes Rund über, wo dem Betrachter sieben Rekordfahrzeuge präsentiert werden.


Die Faszination Technik
In der Fortsetzung der Zeitachse wird in der «Faszination Technik» ein ständig aktualisierter Einblick in die Highlights aus Forschung und Entwicklung geboten, die die Zukunft der Marke definieren.


Von komplexen Geometrien geprägt
Im neuen Mercedes-Benz Museum gibt es keine rechten Winkel. Alle Wände und Decken, Rampen und Stützen sind gewölbt oder in sich gedreht und gehen in sanften, fliessenden Formen ineinander über. Nur zur Verständigung sprechen am Bau beteiligte Planer und Ausführende von neun Geschossebenen: In Wirklichkeit gibt es keine starre Aufteilung in Etagen, so sind die Mythosräume zum Beispiel fast doppelt so hoch wie die Sammlungsräume. Und zwischen beiden besteht ein Niveauunterschied von mehr als einem Meter.



Die sogenannten Twists, zweifach gekrümmte Bauteile, sind die spektakulärste Innovation des Gebäudes. Sie wachsen als senkrechte Wand aus den Aufzugskernen heraus und schrauben sich dann, an den nächsten Kern angelehnt, in leichtem Bogen nach aussen. Diese komplexe Geometrie setzt sich fort in den Rampen, die entlang der Aussenwand des Gebäudes die Mythosräume verbinden, so dass der Besucher schon von der nächst höheren Ebene aus einen Überblick über die Exponate bekommt. Diese Rampen ruhen ihrerseits wiederum auf schräg gestellten Pfeilern, die ihre statische Funktion auf raffinierte Weise erfüllen und zugleich die grosszügige Fensterfläche der Sammlungsräume optisch strukturieren.


Grundlage der Planung: ein dreidimensionales Datenmodell
Ganz am Anfang des Entwurfsprozesses standen einfache Zeichnungen und Modelle, wie sie seit jeher ein gelungenes Design kennzeichnen. «Zuerst einmal sassen wir alle um einen Tisch und haben Papiermodelle gebastelt», sagt Tobias Wallisser, Kreativdirektor des UN studio. «Jeder hat seine Interpretation des Modells Kleeblattschlinge gebaut.» Denn, wie Ben van Berkel ergänzt: «Bei unseren Entwürfen handelt es sich ja beileibe nicht ausschliesslich um digitale Architektur. Wir arbeiten stets eben auch ganz konkret.»


Lastwagen im stützenlosen Raum
Was das Mercedes-Benz Museum von diesen Gebäuden aber unterscheidet: Die komplexe geometrische Form betrifft nicht nur eine leichte äussere Hülle oder ein flach in die Landschaft geschmiegtes Gebäude. Vielmehr sind hier die am schwierigsten zu berechnenden und auch anzufertigenden Bauteile zugleich die wichtigsten tragenden Elemente. 33 Meter Distanz überspannen die Decken und Böden der einzelnen Räume. Ganz ohne Stützen: Dies war eine der ersten Prämissen im Entwurf des UN studio.


«33 Meter, das ist mehr als die Breite einer Autobahnbrücke», Werner Sobek, Statiker des Gebäudes.


Die angewendete Ingenuerkunst ist ein weiterer Beleg für die Philosophie des UN studio, die Funktionen nicht strikt zu trennen, sondern im Gegenteil untrennbar miteinander zu verbinden. (dc/mc/th)

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