Lord Chris Patten: «China ist keine Bedrohung»

Michèle Bodmer & Daniel Huber, emagazine

Wann waren Sie das letzte Mal in Hongkong?
Chris Patten: Im November 2005 und dann nochmals im August 2006, um an der Hongkonger Buchmesse die Taschenbuchausgabe meines Buchs «Not Quite the Diplomat: Home Truths About World Affairs» zu lancieren.



«Meiner Ansicht nach lässt sich die chinesische Wirtschaft ohne politische Konsequenzen nicht beliebig öffnen.» Lord Chris Patten


Wo liegt der markanteste Unterschied zwischen dem heutigen Hongkong und jenem von 1997, als Sie die Stadt als Gouverneur verliessen?
Ich glaube nicht, dass man von einem markanten Unterschied sprechen kann. Vielleicht ist die Ausländergemeinde etwas kleiner geworden; mit Sicherheit ist die britische Gemeinde heute kleiner, aber Hongkong ist nach wie vor eine der liberalsten Städte Asiens. Hongkong ist eine ausgesprochene Rarität – eine Stadt, die zwar weltoffen und frei, aber nicht demokratisch ist. Sie besitzt alle Merkmale einer freien Gesellschaft: Bürgersinn, eine saubere Verwaltung, eine gut funktionierende Polizei, Redefreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Glaubens und Versammlungsfreiheit. Aber es fehlt die Möglichkeit, die Regierung an der Wahlurne abzuwählen. Gleichwohl würde ich viel lieber in Hongkong leben als in den meisten anderen Städten Asiens.


Sie haben das fehlende Stimmrecht angesprochen. Wird in China der wachsende Wohlstand den Übergang zur Demokratie erzwingen?
Sie kennen den Begriff der «Tipping Points», wonach sich die Dinge auf einen Punkt zubewegen, an dem alles …


… zusammenbricht?
… ins Rutschen gerät. Die Chinesen haben in gewissem Sinne begonnen, darüber zu reden. Einige Hardliner in der Partei debattieren im halböffentlichen Raum, in Artikeln und Reden, die in den alten kommunistischen Parteizeitungen Hongkongs abgedruckt werden. So wurden die Debatten früher auch in Peking einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Hardliner haben zuletzt Bankchefs kritisiert, die den Bankensektor weiter deregulieren wollen. Sie argumentieren, wenn der Staat zugunsten der Wirtschaft weiter an Einfluss verliere, sei die Partei früher oder später ausserstande den Staat zu kontrollieren. Das ist sicher richtig. Um einen weiteren «Tipping Point» zu veranschaulichen: Bis zum Überdruss wurde China mit einem Elefanten auf dem Fahrrad verglichen, der immer weiterstrampeln muss, um die gesellschaftliche Stabilität aufrechtzuerhalten und dem Zusammenbruch zu entgehen. Auch dies erfordert einen ständigen wirtschaftlichen Wandel und kontinuierliche Reformen. Es gibt also tatsächlich zwei «Tipping Points» – einen politischen und einen wirtschaftlichen. Ich glaube jedoch nicht, dass irgendjemand im Ausland weiss, wann China diesen Punkt erreichen wird.


Was ist Ihre Meinung?
Zum genauen Zeitpunkt habe ich keine Meinung, wohl aber zu dessen Unvermeidbarkeit. Meiner Ansicht nach lässt sich die chinesische Wirtschaft ohne politische Konsequenzen nicht beliebig öffnen. Die Frage ist, ob sich die politischen Folgen wirksam von oben kontrollieren lassen oder ob sie von unten aufgezwungen werden. Als vernünftiger Mensch kann man China nur Erfolg und Stabilität wünschen, denn die Konsequenzen des Scheiterns wären für den Rest der Welt in der Tat alarmierend.


Kann der Westen die Richtung des «Tipping Point» mitbestimmen?
Ich denke nicht, dass wir grossen Einfluss auf die innenpolitischen Debatten Chinas nehmen können. Aber wir sollten das Land weiterhin auf globaler Ebene in eine verantwortungsvolle wirtschaftliche und politische Führungsrolle einbinden. Unser Interesse am wirtschaftlichen Wachstum Chinas darf uns nicht daran hindern, für Reformen zu plädieren, welche die Verletzung der Menschenrechte der Bürger und Religionsgruppen beenden könnten. Und wir müssen China klar machen, dass wir seinen Erfolg nicht als Bedrohung empfinden, sondern als riesige Chance.


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Sie waren Ihr ganzes Leben lang in der Politik tätig. Würden Sie aufgrund Ihrer Erfahrung sagen, dass Geld die Welt regiert?
Geld mag die Zahnräder der Wirtschaft schmieren, ist aber sicher nicht das Mass aller Dinge. In China hat die kommunistische Partei moralisch an Einfluss verloren, weil sie sich zu sehr auf die Anhäufung von Reichtum verlegt hat. Das entstandene Vakuum ist einer der Gründe, weshalb die Religionen heute, wenn auch teilweise im Untergrund, einen derart starken Zulauf haben. Und ich denke, damit lassen sich auch Phänomene wie Falun Gong erklären. In China gibt es wie anderswo auch emotionale Wellen und gesell schaftliche Erscheinungen, die mächtiger sind als Geld, wobei ich der Ansicht bin, dass diese besonders dort gefährlich sind, wo es an Geld mangelt.



«Autoritäre Regierungen betreiben keine Wirtschaftspolitik, die Wachstum und Arbeitsplätze schafft. Sie erzeugen vielmehr Feindseligkeit und Unterdrückung»


Dann ist also die Religion wichtiger, als viele von uns glauben?
In den Neunzigerjahren glaubten wir, dass die Religion in der Welt keine Rolle mehr spiele. Heute haben wir es mit einer Bedrohung zu tun, die zwar nicht von der Religion als solcher ausgeht, aber von jenen, die der Religion misstrauen und sich aufgrund der eigenen wirtschaftlichen und politischen Entfremdung häufig extremen religiösen Anschauungen zuwenden.


Meinen Sie damit speziell die islamische Welt?
Das trifft nicht nur für die islamische Welt zu, sondern für die Welt als Ganzes. Schauen Sie sich nur das Aufkommen der evangelischen Rechten in den USA an. Ich stelle sie nicht auf eine Stufe mit den islamischen Fundamentalisten, aber es handelt sich um eine weitere Erscheinungsform einer materialistischen Kultur. Als ich vor kurzem im Nahen Osten weilte, war ich erstaunt, wie eine autoritäre Regierung den Terrorismus geradezu heranzüchtet. Autoritäre Regierungen betreiben keine Wirtschaftspolitik, die Wachstum und Arbeitsplätze schafft. Sie erzeugen vielmehr Feindseligkeit und Unterdrückung. Die gefährlichste Brutstätte für politischen Extremismus sind Arbeitslosigkeit und staatliche Repression. Wer die Dynamik des politischen Islam nicht versteht und ihn zu unterdrücken versucht, führt ihn in den islamischen Dschihad.



«So wie der Krieg gegen den Terrorismus geführt worden ist, hat er die terroristische Gefahr eindeutig erhöht.»


Spielt die Globalisierung – oder vielmehr die Angst davor – bei diesem Phänomen ebenfalls eine Rolle?
Ich denke, die gute Seite der Globalisierung – nennen wir sie Doktor Jekyll – besteht in der Art und Weise, wie der technische Fortschritt gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Segnungen der sich öffnenden Märkte mehrte und beschleunigte. Geld hat Millionen von Bauern in Indien und China vom Joch der Armut befreit. Aber es gibt auch eine andere Seite der Globalisierung – den Mister Hyde -, denn durchlässigere Grenzen fördern die Verbreitung von Epidemien, Umweltzerstörung, Terrorismus und Waffenlieferung. Alles Probleme, die sich zu spitzen, wenn sie jene betreffen, die von den positiven Effekten der Globalisierung ausgeschlossen bleiben.


Sie haben den Terrorismus erwähnt. Was halten Sie für bedrohlicher, den Terrorismus oder den weltweiten Krieg gegen Terrorismus?
Offen gesagt, so wie der Krieg gegen den Terrorismus geführt worden ist, hat er die terroristische Gefahr eindeutig erhöht.


Ist der Umgang mit Terrorismus also vor allem eine Frage der Politik oder der Sicherheit?
Es gibt einen Zusammenhang zwischen Politik und Terrorismus, den wir anerkennen müssen, ohne dabei Zugeständnisse an die Terroristen zu machen. Und diese politischen Fragen sind oftmals bedeutender als Sicherheitsaspekte, wenn es darum geht, unsere freien Gesellschaften besser zu schützen.


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In Ihrem Buch beschreiben Sie Europa und Amerika als Cousins und als Fremde.
In Bezug auf unsere politische Kultur sind wir beide Kinder der Aufklärung, die denselben Grundwerten verpflichtet sind: Rechtsstaatlichkeit, Mitbestimmung an der Regierung, Redefreiheit und so weiter. Aber es gibt auch unübersehbare Unterschiede. Amerika ist eine Supermacht und sieht die Welt mit anderen Augen. Europa hat seit dem Ende des letzten Weltkriegs gut mit der Pax Americana gelebt, was den Amerikanern eine andere Sicht der Dinge ermöglicht hat. Und die Religion spielt in Amerika offensichtlich eine wichtigere Rolle, davon ist auch die Politik betroffen. Tatsache ist, dass die Welt ein starkes, selbstbewusstes und erfolgreiches Amerika braucht. Die Ergebnisse der Politik, die Amerika in den letzten Jahren verfolgt hat, haben es jedoch geschwächt und viele Amerikaner veranlasst, mit sich selbst zu hadern. Wir in Europa haben nicht gerade viel dagegen unternommen.



«In jeder Verhandlung müssen Sie bereit sein, einfach auszusteigen. Deshalb gehören Unternehmenschefs für mich niemals in die Nähe eines Verhandlungstischs, denn sie wollen Ergebnisse.»


Sie haben in Ihrer Laufbahn immer wieder mit harten Verhandlungspartnern zu tun gehabt. Welches ist das Geheimnis Ihres Erfolgs als Verhandlungsführer?
Wer mitten in schwierigen Verhandlungen steckt, tut am besten das, was er für richtig hält. Das mag zwar im Moment schwieriger sein, hat aber mit grösserer Wahrscheinlichkeit Bestand.


Wie sollte man sich in besonders schwierigen Verhandlungen verhalten?
In jeder Verhandlung müssen Sie bereit sein, einfach auszusteigen. Deshalb gehören Unternehmenschefs für mich niemals in die Nähe eines Verhandlungstischs, denn sie wollen Ergebnisse. Um diese zu erzielen, setzen sie ihre Verhandlungsführer unter Druck, zu einer Einigung zu gelangen, auch wenn dies mehr im Interesse der Gegenseite als in ihrem eigenen ist. Deshalb sollten sich Unternehmenschefs unbedingt an den Grundsatz halten, Verhandlungen an Experten zu delegieren.


Welches sind die wichtigsten Eigenschaften einer guten Führungspersönlichkeit?
Konsequenz, Offenheit und Mut.


Gibt es eine Person, die Sie für diese Eigenschaften besonders bewundern?
Von den modernen Politikern war Margaret Thatcher ein Phänomen, und ich denke, dass ihr die Geschichte ungeachtet ihrer Fehler wohlgesinnt sein wird. Sie hatte es mit einem Land zu tun, das am Rand des Niedergangs stand, wie Spanien im 17. Jahrhundert. Dank Entschlossenheit, einer klaren Vision und einfachen Worten, mit denen sich die Leute identifizieren konnten, brachte sie die Wende zustande. Auch bewundere ich jemanden, den Margaret Thatcher nicht ausstehen konnte: Helmut Kohl. Er hatte ein grossartiges politisches Gespür dafür, wann der Augenblick für eine bedeutende Entscheidung gekommen war. Politiker müssen nicht oft Entscheidungen von grosser Tragweite treffen, welche die Welt oder ihr Land verändern. Aber bei der deutschen Wiedervereinigung lag Kohl absolut richtig, und ich denke, dass er als eine der grossen Figuren des letzten Jahrhunderts in die Geschichte eingehen wird.


Welchen Rat würden Sie einem Unternehmen auf dem Weg zum Global Player geben?
Während meiner Zeit in Hongkong hielt ich es jeweils für einen Fehler, wenn britische Unternehmen keine Chinesen beschäftigten. Diesen Fehler machte die Regierung übrigens nicht, denn sie verfügte über ein sehr schlagkräftiges Kader an chinesischen Beamten. Einzelne Unternehmen begannen erst kurz vor der Übergabe und mehr aus symbolischen Motiven damit, Chinesen einzustellen. Jeder Global Player mit Wurzeln in Europa oder Nordamerika sollte es nicht nur bei guten Worten belassen, wenn es darum geht, andere Kulturen verstehen zu wollen. Vielmehr gilt es, lokale Mitarbeitende zu schulen und zu rekrutieren, anstatt smarte Anwälte und Banker einzufliegen.


Sie haben die ganze Welt bereist. Wo könnten Sie sich – abgesehen von Grossbritannien – vorstellen, Ihren Ruhestand zu verbringen?
Ich habe nicht vor, in den Ruhestand zu treten, und ein Leben ohne Arbeit kann ich mir schon gar nicht vorstellen. Es gibt noch vieles, über das ich schreiben möchte – eine Arbeit, der ich mich vielleicht in Frankreich widmen werde. Ich bin ein grosser Frankreichfan und besitze ein Haus in Albi nördlich von Toulouse. Als passionierter Gärtner habe ich dort einen schönen Obst- und Gemüsegarten angelegt.


Wie kommen Sie mit dem Unkraut zurecht?
Meistens ohne Chemikalien, obwohl ich nicht ganz darauf verzichte. Mit Unkraut und Sträuchern muss man streng verfahren.




Der Gesprächspartner
Chris Patten wurde 1992 zum letzten Gouverneur von Hongkong ernannt. Dort leitete er die Rückgabe des Stadtstaates ? nach über 150-jähriger britischer Kolonialherrschaft ? an China ein. 1997 übergab er formell die Führung des Territoriums an Peking, nachdem er der kommunistischen Partei die Zusicherung abgerungen hatte, die kapitalistische Ordnung der Stadt aufrechtzuerhalten und bedeutende demokratische Reformen einzuführen. Obwohl diese nach der Übergabe wieder rückgängig gemacht wurden, glaubt Chris Patten weiterhin daran, dass Hongkong eines Tages demokratisch sein wird. Nach seiner Rückkehr nach Grossbritannien wurde er zum Vorsitzenden des Unabhängigen Ausschusses für das Polizeiwesen in Nordirland ernannt, der im Rahmen des Karfreitagsabkommens gebildet wurde. Von 1999 bis 2004 amtete der studierte Historiker als EU-Kommissar für Aussenbeziehungen, und 2005 wurde er als Lord Patten of Barnes in den Adelsstand erhoben. Er ist Kanzler der Universitäten von Newcastle und Oxford und Autor von fünf Büchern, darunter «Not Quite the Diplomat: Home Truths About World Affairs», das 2005 veröffentlicht wurde.







Das Interview wurde uns freundlicherweise vom EMAGAZINE der Credit Suisse zu Verfügung gestellt

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