Medicare: Die Kosten steigen dramatisch

Noam Neusner, emagazine

Die Diskussionen über die Zukunft des amerikanischen Gesundheitswesens kreisen immer wieder um ein kritisches Thema: Soll das Gesundheitssystem weiterhin auf einem privaten Netzwerk von Ärzten, Spitälern und Krankenversicherern basieren oder in ein sozialisiertes, so genanntes Single-PayerModell umgewandelt werden, das heisst mit dem Staat als einzigem Zahler, wie es in Kanada und den meisten europäischen Staaten existiert? In Tat und Wahrheit erübrigt sich die Debatte: Das amerikanische Gesundheitssystem wird bereits zu einem beträchtlichen Teil von der Bundesregierung kontrolliert ? vor allem das MedicareSystem.


Kosten von schätzungsweise 394 Milliarden Dollar
Knapp vier Jahrzehnte nach seiner Gründung als Ergänzung zu den staatlichen Sozialhilfeprogrammen, die während der Grossen Depression entstanden, ist Medicare zum wichtigsten Player im amerikanischen Gesundheitsmarkt avanciert. Auf das System entfallen rund vier von zehn ausgegebenen Dollar; es legt effektiv Preise und Standards für eine Vielzahl von Pflegemethoden und -leistungen fest und diktiert die Einnahmen von nahezu allen Akteuren im Gesundheitswesen: von Ärzten über gemeinnützige Spitäler bis zu grossen Pharmaunter nehmen. Medicare versorgt 42,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger und verursacht allein in diesem Jahr Kosten von schätzungsweise 394 Milliarden Dollar oder 2,7 Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Fondsvermögen von Medicare wird in etwas mehr als zehn Jahren aufgebraucht sein
Aber mit dem baldigen Eintritt der Baby-Boom-Generation in den Ruhestand (die ältesten Vertreter dieser demografischen Gruppe, darunter die Präsidenten George W. Bush und Bill Clinton, werden in diesem Jahr 60) dürften die Kosten für Medicare bis 2080 voraussichtlich auf elf Prozent des BIP anwachsen. Es besteht die Versuchung, die finanzielle Bedrohung als in weiter Ferne liegend und daher wenig beunruhigend abzutun, aber die Herausforderung des finanziellen Ungleichgewichts von Medicare ist schon heute Realität. In nur 20 Jahren wird Medicare mehr Geld verschlingen als Social Security, das viel diskutierte öffentliche Rentensystem der USA, dem in den kommenden Jahren ein ähnliches Finanzierungsproblem bevorsteht. Und das Fondsvermögen von Medicare ? in fiktiven Konten angehäuft, um vergangene, dem Programm zugeflossene Steuerüberschüsse auszuweisen ? wird in etwas mehr als zehn Jahren aufgebraucht sein.


Prozentualer Anteil der Erwerbstätigen an der US-Bevölkerung ist seit Jahren rückläufig
«Zu viele Rentner und zu wenige Erwerbstätige für die Finanzierung des Systems werden zur katastrophalen Unfähigkeit führen, für die Pflege von Millionen aufzukommen, die es am dringendsten benötigen», erklärte Kay Bailey Hutchison, US-Senator aus dem Bundesstaat Texas. Wie die Rentenversicherung wurde auch Medicare als selbsttragendes System konzipiert, in dem heutige Erwerbstätige für die Pflegekosten der aktuellen Rentner aufkommen sollen. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Der prozentuale Anteil der Erwerbstätigen an der US-Bevölkerung ist seit Jahren rückläufig, während die Zahl der Rentner stetig zugenommen hat, sodass die heutigen Medicare-Abgaben nur knapp mehr als die Hälfte der gesamten Medicare-Zahlungen decken.


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Schwer einzulösendes Versprechen
Würde das Medicare-System von einem Wirtschaftsprüfer kontrolliert wie eine private Rentenversicherung, müsste es höchstwahrscheinlich aufgelöst werden. Um das Programm wieder ins Gleichgewicht zu bringen, wäre nach Aussage der Treuhänder des Programms entweder eine sofortige Verdopplung der Medicare-Abgaben oder eine Halbierung der Medicare-Leistungen erforderlich. Bislang erscheint beides unwahrscheinlich. In den USA neigt die Politik ? oftmals beherrscht von den Anliegen der Senioren ? eher dazu, Leistungen auszubauen, anstatt sie zu kürzen. So sollte die jüngste MedicareÄnderung das langjährige Versprechen erfüllen, das System durch eine Medikamentenerstattung zu ergänzen. Die Zusatzkosten für das Paket, das im Rahmen des Medicare Modernization Act von 2003 in Kraft trat, werden für die ersten zehn Jahre auf 395 Milliarden Dollar veranschlagt. Es wurden keinerlei Anstrengungen unternommen, die zukünftigen Einnahmen in gleichem Mass zu erhöhen. Oder wie der frühere Vorsitzende der US-Notenbank (Fed), Allan Greenspan, warnte: «Als Nation haben wir womöglich bereits Versprechungen an spätere Rentnergenerationen gemacht, die wir nicht werden erfüllen können.»


Health Savings Accounts wirken sich stabilisierend auf die Prämien aus
Weil Medicare in den grösseren Kontext des amerikanischen Gesundheitssystems eingebettet ist, müssten jegliche Bemühungen um eine Ausgabenkürzung des Programms durch ähnliche Massnahmen auf den privaten Gesundheitsmärkten begleitet werden. Tatsächlich konnte nach der Einführung von verbraucherorientierten, steuerbegünstigten Gesundheitssparkonten (so genannte Health Savings Accounts) auf den privaten Märkten eine gewisse Stabilisierung der Prämien erzielt werden. Diese Gesundheitspläne werden meistens mit einem hohen Selbstbehalt belegt, um den Versicherten einen Anreiz zu bieten, weniger zum Arzt zu gehen und gesünder zu leben. Gemäss einer vor kurzem erstellten Studie des Deloitte Center for Health Care Solutions stiegen die Kosten für verbraucherorientierte Gesundheitspläne im letzten Jahr nur um 2,6 Prozent, verglichen mit 6,6 bis 7,5 Prozent für herkömmliche Pläne. Eine ähnliche Fokussierung zur Verstärkung des Wettbewerbs auf Seiten der Versicherer hat zu unerwartet niedrigen Prämien für den neu eingeführten Medicare-Zuschuss für rezeptpflichtige Medikamente geführt.


Lösung des Medicare-Problems
Der Medicare-Zuschuss für rezeptpflichtige Medikamente soll helfen, das Gesundheitswesen effizienter zu machen, da die Patienten eine medikamentöse Behandlung wählen können, um chirurgische Eingriffe zu vermeiden und ihren Gesundheitszustand zu verbessern. Aber aufgrund der Erfahrungen mit rezeptpflichtigen Medikamenten in den USA dürfte dies vorerst Wunschdenken bleiben; unabhängig vom Angebot medikamentöser Behandlungen hat die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens pro Kopf der Bevölkerung rasant zugenommen. Tommy Thompson, der frühere Minister für Gesundheit und Soziales, meinte dazu: «Es gibt eine ebenso einfache wie besorgniserregende Wahrheit: Alle bezahlen jährlich mehr und er halten für ihre Gesundheitsdollar immer weniger.» Es bleiben einige besondere Optionen:



  • Anhebung der Medicare-Prämien für wohlhabende Senioren
  • Erhöhung der MedicareLohnnebenkosten
  • Aufhebung der MedicareDeckung bei gewissen optionalen Behandlungen
  • Senkung der Kosten für rezeptpflichtige Medikamente
  • medizinische Geräte und sonstige Leistungen mittels Nutzung der Kaufkraft der Regierung sowie
  • Kürzung der Zahlungen an jene Ärzte und Spitäler, denen häufige und schwere Fehler unterlaufen.

An Lösungsideen fehlt es also nicht. Doch müssen die USA in einem ersten Schritt vor allem einmal anerkennen, dass ein Problem besteht.






Kein Land gibt so viel Geld aus für Gesundheit wie die USA:
Gemäss Health Data Report 2006 der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verzeichnen die USA von allen Industrieländern weiterhin die höchsten Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit.


2003 gaben die USA pro Kopf 6100 Dollar aus (an die Kaufkraftparität angepasst), das sind 50 Prozent mehr als in Kanada, Frankreich, Grossbritannien und anderen Industrieländern. Dies geht aus einer Datensammlung der OECD aus den 30 wichtigsten Industrieländern der Welt hervor. An zweiter Stelle liegt Luxemburg mit knapp über 5000 Dollar pro Kopf, gefolgt von der Schweiz und Norwegen mit je rund 4000 Dollar.


Trotz höherer Ausgaben gibt es in den USA verglichen mit den meisten OECD-Ländern weniger Ärzte pro Einwohner, weniger Krankenschwestern und Spitalbetten sowie die niedrigste Nutzung von Intensiv-Pflegebetten. Und entgegen der verbreiteten Ansicht werden die Kosten im Gesundheitswesen nicht durch so genannte «malpractice lawsuits» (Kunstfehler-Verfahren) in die Höhe getrieben. So machen die Versicherungsbeiträge für Malpractice-Prozesse weniger als ein Prozent der gesamten nationalen Gesundheitsausgaben aus, wie eine Studie mit dem Titel «Health Spending in the United States and the Rest of the Industrialized World» ergab, die im Juli/August 2005 in der US-Fachzeitschrift «Health Affairs» veröffentlicht wurde. Die Autoren der Studie analy sierten die OECDDaten, um die Frage zu beantworten, warum die Gesundheitsausgaben in den USA so viel höher sind. Ein Teil der Diskrepanz lässt sich durch die höheren Einkommen und Lebenskosten erklären, aber als Hauptfaktoren gelten die allgemein höhe ren Kosten für Gesundheitsleistungen wie rezeptpflichtige Medikamente, Spitalaufenthalte und Arztbesuche. Und die Zeche bezahlen Amerikanerinnen und Amerikaner, denn nur 45 Prozent der US-Gesundheitsausgaben werden von der Regierung getragen ? deutlich weniger als der OECD-Durchschnitt von 73 Prozent.


 







Der Artikel wurde uns freundlicherweise vom EMAGAZINE der Credit Suisse zu Verfügung gestellt

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