Micheline Calmy-Rey zur Bundespräsidentin gewählt

Vor Calmy-Rey hatte Edmund Schulthess (FDP) den Negativrekord gehalten. Er wurde 1920 mit 136 Stimmen zum Bundespräsidenten gewählt. Die Bundesversammlung hatte damals 233 Sitze. Parlamentarierinnen und Parlamentarier bewerten das schlechte Wahlresultat von Micheline Calmy-Rey je nach Parteizugehörigkeit als «Kleinmütige Abrechnung», «Scheinheiligkeit», «Denkzettel» oder «Ohrfeige». Überrascht zeigte sich nach der Wahl niemand.


SP: «Kleinmütige Abrechnungen»
Für SP-Fraktionschefin Ursula Wyss zeugen die lediglich 106 Stimmen für Micheline Calmy-Rey von «kleinmütigen Abrechnungen einzelner». In der Summe habe das den Stimmenverlust ergeben, sagte sie zu Medienvertretern. Calmy-Rey sei gewählt, und das im ersten Wahlgang, stellte sie klar. Das Resultat habe bestimmt mit Calmy-Reys Persönlichkeit zu tun: «Sie hat Ecken und Kanten und steht zu ihrer Meinung. Das gefällt der SVP nicht.» Und in den Mitteparteien gebe es wohl Leute, denen die Konkordanzregeln nicht so wichtig seien.


CVP: «Denkzettel»
CVP-Präsident Christophe Darbellay schätzte, dass Calmy-Rey nur etwa ein Drittel der Stimmen der Mitte-Rechts-Fraktionen erhalten hatte. Dass alle Fraktionen der Sozialdemokratin die Unterstützung zugesichert hatten, erklärte er sich damit, «dass keine Partei die Verantwortung für das Resultat übernehmen wollte». Die 106 Stimmen für Calmy-Rey wertete Darbellay als Denkzettel. Die Attacken der Bundesrätin auf FDP und CVP sowie die Libyen-Affäre hätten Spuren hinterlassen, vermutete er.


Grüne: «Scheinheiligkeit»
Grünen-Präsident Ueli Leuenberger sprach von «Scheinheiligkeit» und kritisierte die Haltung jener, die Calmy-Rey einen Denkzettel hatten erteilen wollen. Calmy-Rey die Unterstützung zuzusagen und ihr «hintenherum eins auszuwischen» sei nicht das, was er sich von Regierungsparteien wünsche. BDP-Präsident Hans Grunder hoffte, Calmy-Rey nehme den Denkzettel des Parlaments für ihr Präsidialjahr zur Kenntnis. «Indiskretionen aus dem Bundesrat sollte es nicht mehr geben.» Überbewerten wollte er das Resultat nicht: «Läuft alles normal, ist das schnell vergessen».


SVP: «Misstrauensvotum» 
«Eine verdiente, gewaltige Ohrfeige» und ein «Misstrauensvotum» sei das Resultat, sagte Nationalrat Hans Fehr (SVP/ZH). Mit ihrer Aussenpolitik habe Calmy-Rey nicht im Interesse des Landes gehandelt, sondern sich selbst inszenieren wollen. Er hoffe, dass sie sich als Bundespräsidentin etwas zurückhalte. Die Erwartungen an Calmy-Rey decken sich weitgehend: «Sie sollte als Kohäsionsfaktor und nicht als Divisionsfaktor wirken», sagte Darbellay. Leuenberger wünscht sich, dass Calmy-Rey «mehr Kontakt zur Bevölkerung und zu den Fraktionen hat als in letzter Zeit.»


BDP freut sich über Widmers Resultat
Dass das schlechte Resultat die neue Bundespräsidentin in der Amtsführung beeinträchtigen wird, glaubt Ursula Wyss nicht. «Übermorgen ist Calmy-Rey die Bundespräsidentin der Bevölkerung», sagte sie. Für die eidgenössischen Wahlen in einem Jahr lasse sich aber noch nichts daraus ableiten. Grunder freute sich über das Resultat der BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf und sprach von einem «Vertrauensbeweis der konstruktiven Kräfte». Sie habe ein Zeichen erhalten, dass sie ihre Arbeit gut mache. Schlüsse für die Neuwahlen in einem Jahr mochte er aber nicht ziehen. «Dann werden die Karten neu gemischt.» (awp/mc/ps/10)

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