Verdichtung in den Städten geht oft auf Kosten von Ärmeren

Bern – Das Verdichten trägt laut einer ETH-Studie zwar zur Schaffung von mehr Wohnfläche in städtischen Regionen bei. Wird aber abgebrochen und neu gebaut und müssen Mieter Platz machen, sind es überdurchschnittlich oft Haushalte mit tiefen Einkommen.
Untersucht wurden für die Studie der Forschungsgruppe Raumentwicklung und Stadtpolitik der ETH Zürich die fünf grössten Agglomerationen der Schweiz: Zürich, Bern, Basel, Lausanne und Genf. Am Dienstag wurde die Arbeit vom Bundesamt für Wohnungswesen (BWO) den Medien vorgestellt.
«Zielkonflikte treten zutage»
Das Bevölkerungswachstum, Individualisierung, die alternde Bevölkerung und steigender Wohlstand liessen die Haushalte kleiner werden, sagte BWO-Direktor Martin Tschirren. Das Bundesamt für Statistik sage voraus, dass die Zahl der Haushalte von 3,8 Millionen im Jahr 2020 auf 4,7 Millionen im Jahr 2050 steigen werde.
Gleichzeitig muss mit dem begrenzt vorhandenen Baugrund in der Schweiz haushälterisch umgegangen werden. Doch Verdichten sei anspruchsvoll, sagte Tschirren. «Es treten Zielkonflikte zwischen dem Bedarf an Wohnraum, ökologischer Nachhaltigkeit und sozialer Verträglichkeit zutage.»
Neue Wohnungen in städtischen Räumen entstanden vor allem in Ersatzbauten, durch Aufstockungen und die Umnutzung von Industriearealen. Dass Verdichtung passiert, zeigt sich darin, dass netto – neu erstellte minus abgebrochene – mehr Wohnungen entstanden sind. In vier der untersuchten Agglomerationen war das der Fall.
Effektivere Raumnutzung in Genf und Lausanne
Nur in Zürich ging die Zahl der neuen Wohnungen zurück. In Basel, Lausanne und Genf entstanden pro abgebrochene Wohnung 1,6 bis doppelt so viele neue Wohnungen als in Zürich oder Bern. Basel, Lausanne und Genf konnte somit den bestehenden Siedlungsraum effektiver nutzen, wie es in der Studie heisst.
Ehemalige Industrieflächen hatten Potenzial: In Basel zum Beispiel entstanden zwischen 2020 und 2023 rund 15 Prozent der neuen Wohngebäude auf ehemaligen Industrie- oder Gewerbezonen. In diesen Gebäuden befinden sich rund 24 Prozent aller neuen Wohnungen, also fast jede vierte.
Eine stärkere Verdichtung muss allerdings nicht dazu führen, dass auf einer bestimmten Fläche danach mehr Menschen leben. Gerade in der Deutschschweiz zeigte sich, dass beim neu Bauen zwar die Zahl, aber auch die Grösse der Zimmer und damit auch die verbrauchte Wohnfläche pro Person zunahm.
Weniger Aufstockungen als Neubauten
Häufig wird auch Gleiches mit Gleichem ersetzt: Einfamilienhäuser werden in Zürich zu 50 Prozent und in Genf zu 77 Prozent durch neue Einfamilienhäuser ersetzt. Wäre stattdessen ein Mehrfamilienhaus gebaut worden, hätte die Siedlungsfläche stärker genutzt werden können.
Wohnhäuser werden laut der Erhebung häufiger ersetzt als vergrössert. Das Forschungsteam zählte rund zehn Mal weniger Aufstockungen als Ersatzbauten. Verhältnismässig viele Aufstockungen gab es allerdings in Genf.
Ein Gebäude zu erhöhen, sei nachhaltiger als ein Neubau, sagte David Kaufmann von der Forschungsgruppe. Das Gebäude könne im Zug der Aufstockung energetisch saniert werden und die Mieter könnten bleiben.
Mehr Verdrängte in Zürich
Untersucht wurden auch die Verdrängungseffekte des Verdichtens: Je nach Agglomeration mussten unterschiedlich viele Mieter wegen eines Ersatzbaus oder eines Totalumbaus umziehen. Von 2015 bis 2020 waren in Genf 0,08 Prozent der Wohnbevölkerung betroffen, in Zürich aber 1,02 Prozent.
Von Genf, aber auch von Lausanne könne man lernen, wie verdichtet werden könne ohne zu viele Menschen zu verdrängen, sagte Kaufmann. Betroffen von Leerkündigungen waren vor allem Haushalte mit tiefen Einkommen.
Wer seine Wohnung wegen Abriss- oder Totalsanierungsplänen der Eigentümer verlor, hatte laut der Studie ein um rund 30 bis 40 Prozent tieferes mittleres Einkommen als die Gesamtbevölkerung. Wer in den Ersatzbau einzog, hatte hingegen zwischen 15 und 39 Prozent mehr Einkommen als die Gesamtbevölkerung. (awp/mc/ps)